"La Natività" von Caravaggio

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Der Caravaggio-Krimi

In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober des Jahres 1969 wird in Palermo Caravaggios "La Natività" gestohlen. Das Gemälde, das die Geburt Christi zeigt, ist mittlerweile auf Platz zwei der meisten gesuchten Kunstwerke weltweit. Ob der Diebstahl ein Werk der Mafia war, oder wer sonst dahinter steckt, bleibt auch nach mehr als 50 Jahren ein Rätsel.

In einer schmalen Gasse der Altstadt Palermos steht das Oratorio di San Lorenzo. Das Innere der Kirche ist kaum größer als ein Wohnzimmer, aber mit wunderbaren Stuckreliefs des sizilianischen Bildhauers Serpotta ausgestattet, die Szenen aus dem Leben der Heiligen Laurentius und Franziskus zeigen. Über dem Altar hängt ein Gemälde von gewaltigem Ausmaß, beinahe drei mal zwei Meter groß. Es stellt "La Natività", die Geburt Christi, dar und ist ein Werk Caravaggios. In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober des Jahres 1969, während eines heftigen Gewitters, wird in das Oratorio eingebrochen. Am Morgen finden die Nachbarn das Tor offen stehend vor und machen die schreckliche Entdeckung: Der Platz über dem Altar ist leer!

"Es war gut organisiert von der Mafia ...", Maria Teresa Galluzzo

Schnell stellt sich heraus, wie die Diebe eingedrungen sind. Die Kirchenfenster haben keine Läden, einer der straßenseitigen Riegel ist aufgebrochen, die Kirchentür lässt sich dann leicht von innen öffnen. Eine Alarmanlage existiert nicht, auch sonst gibt es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen. Die Altstadt Palermos ist in diesen Jahren noch völlig unbeleuchtet, so verschwinden die Diebe unbemerkt im Dunkel der Nacht. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Gleichzeitig erheben sich Stimmen der Empörung: Wieso hängt so ein wertvolles Gemälde ungeschützt in der Kirche, wieso ist der Caravaggio nicht längst in einem Museum? Zu spät, "La Natività" ist verschwunden. Und bleibt es.

"La Natività" ist eines der letzten Gemälde von Caravaggio. Der Diebstahl des Bildes ist eine Geschichte wie erfunden - so gut passt sie zu der Gewalttätigkeit seiner eigenen Biografie ...

Geständnisse der Mafia

Für die Menschen in Palermo ist von Anfang an klar: Das war die Mafia. Die Mafia kontrolliert jedes Verbrechen der Stadt, vielleicht sogar ganz Siziliens. Es erblühen die Gerüchte und Legenden. Das Bild soll bei einem Mafiaboss im Wohnzimmer hängen oder als Bettvorleger dienen, in einem Stall versteckt oder von Ratten zernagt worden sein. Später folgen diverse Geständnisse von Pentiti, reuigen Mafiosi, die sich dadurch Strafminderung erhoffen. Der bisher letzte sagte 2017 aus, dass das Bild, in vier Teile zerschnitten, von einem Kunsthändler in die Schweiz geschmuggelt worden sei.

Auf der FBI-Liste der bedeutendsten Kunstdiebstähle der Welt nimmt der verschwundene Caravaggio inzwischen Platz Nummer zwei ein. Doch war den Dieben der wahre Wert der "Natività" bewusst? Wenn es ein Auftragsdiebstahl war, warum ist nie eine Lösegeldforderung gestellt worden, warum ist das Kunstwerk nie wieder aufgetaucht? Das Rätsel bleibt auch nach mehr als 50 Jahren ungelöst.

Eins von Caravaggios letzten Gemälden

Nicht weniger dramatisch ist die Geschichte des Mannes, der das Gemälde 360 Jahre vor dem Diebstahl anfertigt: Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, ist ein Mann auf der Flucht, als er 1609 nach Palermo kommt. Berühmt für seine Chiaroscuro, seine Hell-dunkel-Technik, berüchtigt für seine Gewalttätigkeit und Trunksucht, gesucht wegen Mordes. "La Natività" ist eines seiner letzten Gemälde, es zeigt den Maler auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Nur wenige Monate später stirbt Caravaggio 1610 in Porto Ercole unter ungeklärten Umständen mit 39 Jahren. War es eine Gewalttat? Es gibt Berichte von seinem zerschnittenen Gesicht. Wie vieles andere in seinem Leben ist dies nur ein Gerücht.

Seit Weihnachten 2015 kann man im Oratorio di San Lorenzo wieder die "Geburt Christi" betrachten. Mit großem Aufwand wurde eine digitale Kopie des Gemäldes hergestellt. Das Original kann sie nicht ersetzen. Doch wenigstens ist der Platz über dem Altar nicht mehr leer.

Gestaltung

  • Susanne Ayoub