Häuserfront in der Upper West Side, NY

AP/DIANE BONDAREFF

Wahlverwandtschaften

"Max, Mischa & die Tet-Offensive" von Johan Harstad

Ein monumentaler Liebes-, Generationen- und Entwicklungsroman über eine zersprengte Gruppe von Wahlverwandten und die Suche nach einer Heimat. Der Roman erschien 2015 in Harstads Heimat und machte ihn zuerst in Norwegen und später international endgültig bekannt. Die im Frühling erschienene deutsche Übersetzung präsentierte der Autor auf der Frankfurter Buchmesse.

Ex libris | 13 10 2019
Antonia Löffler

"Max, Mischa & die Tet-Offensive" muss man im Kontext der zeitgenössischen norwegischen Prosa lesen: Deren ungekrönter König ist Karl Ove Knausgard. Er wurde mit seinem sechsteiligen autobiografischen Zyklus berühmt, den er vor zehn Jahren mit dem Titel "Sterben" eröffnete. Johan Harstad erklärte dem Magazin "Spiegel", wie sehr er die Leistung des Freunds und Kollegen bewundere. Er habe die Großartigkeit des Projekts verstanden, als er vor vielen Jahren den ersten Band las - aber das sei nichts für ihn persönlich, und so fing er eine Woche nach der Lektüre sein eigenes Monsterprojekt an: "Max, Mischa & die Tet-Offensive".

Man könnte es als die Meta-Ebene zu Knausgards Memoiren bezeichnen: Harstad hat die fiktive Autobiografie des Regisseurs Max Hansen geschrieben, die minutiöse Bestandsaufnahme eines ins Rutschen gekommenen Lebens - festgetaut am realen Weltgeschehen vom Vietnamkrieg über 9/11 bis zum Hurrikane Sandy, aber doch rein erfunden.

Von Stavanger nach New York

Der 1979 im südnorwegischen Stavanger geborene Autor nennt "Max, Mischa & die Tet-Offensive" sein persönlichstes Werk. Allzu viele Schnittmengen mit seinem Protagonisten wünscht man ihm aber nicht. Max Hansen ist kein glücklicher Mensch. Seine Lebenskrise beginnt schon im Alter von zwölf Jahren. Auch er stammt aus Stavanger - einem Ort, wo das Geld mit dem Erdöl aus der Nordsee gepumpt wird. Seine Eltern sind anders als die anderen Eltern, die wochenlang auf den Ölplattformen arbeiten. Sie engagieren sich leidenschaftlich in der Kommunistischen Arbeiterpartei gegen den Vietnamkrieg, vor allem seit die erschütternden Fotos von der Tet-Offensive gemeinsam mit den Berichten über den Einsatz des Entlaubungsmittels Agent Orange die Brutalität des weit entfernten Kriegs deutlich machen.

Später, als der Krieg vorbei ist, kapitulieren auch sie in Stavanger vor den Regeln des Kapitalismus, verpacken ihre Ideale, Abzeichen und Plakate am Dachboden und schwenken auf ein bürgerliches Leben um. Und weil der Vater als Pilot viel bessere Karrierechancen in den USA hat, beschließen sie, dorthin auszuwandern. Max wird unvermittelt aus seinem Viertel, seinem Freundeskreis, seiner Sprache und seinen Kriegsspielen zwischen den verwachsenen Fabriken gerissen. Seine Freunde und er sind sich einig: Amerika ist bestimmt cool, aber es ist einfach noch zu früh, um zu gehen.

Buchcover

ROWOHLT VERLAG

Wahlverwandtschaften

So hat sein Trauma begonnen, konstatiert Max Hansen als Erwachsener. Das Gefühl der Heimatlosigkeit wird ihn in Amerika - der Nation der Zugewanderten - nie verlassen. Das verwundert beim Lesen, denn eigentlich klingt seine Geschichte über weite Strecken wie ein Plädoyer dafür, dass man sich Heimat und Familie am Ende noch immer selbst aussucht.

Einen guten Teil des Buchs bilden er, seine sieben Jahre ältere Freundin Mischa, sein bester Freund Mordecai und sein wiedergefundener Onkel, der Vietnam-Veteran Owen, eine ungewöhnliche WG an der Upper West Side von New York. Wir folgen den vier Wahlverwandten in ihren unterschiedlichen Karrierestationen in New Yorks Kunst- und Kulturszene, erleben Partys, Reisen, Umzüge, Krankheitsfälle und verpasste Chancen. Wir folgen Freunden, die sich schon vor Monaten anrufen wollten, und Beziehungen, die einen leisen, unspektakulären Tod sterben.

In keiner Weise spektakulär

In der naturalistischen Genauigkeit eines Émile Zola oder Marcel Proust werden Politik und Popkultur mit den nebensächlichsten Details im Leben von Max, Mischa und Co. verwoben - das reicht bis hin zu seitenlangen Auszügen aus Ausstellungskatalogen und Gebrauchsanweisungen. Wäre nicht die klare, witzige Prosa, würde man den Buchdeckel wohl lange vor Seite 1.242 zuklappen. Doch so lacht, weint und trauert man mit diesen ganz normalen Menschen und gibt Max Hansen recht, wenn er spät in der Geschichte einsieht: "Es gibt keine Helden. Es gibt nur Leute, die sich abmühen, die versuchen, ihr Bestes zu tun."

Service

Johan Harstad, "Max, Mischa & die Tet-Offensive", Roman, aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein, Rowohlt Verlag

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