ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Radiokunst - Kunstradio
Käfer und andere Süchte
Das Hörspiel "Käfersucht" von Sophie Reyer in "Radiokunst - Kunstradio".
11. Dezember 2019, 12:00
Kuntstradio | 10 11 2019
"Käfersucht" von Sophie Reyer
Das, was wir Theater nennen, entspringt dem altgriechischen "θεᾶσθαι", vulgo "theasthai", dem Anschauen. Das Hörspiel sei jenem Schauen entkommen, so die genretechnische Klassifikation. Das ist wahr und falsch. Wir sehen hier nicht die Maske, an der das Licht sich bricht. Wir hören die gestalteten Ebenen, in denen Klang entsteht, sich verwirft, Musik wird oder anderes Abstraktum.
Was hier "schaut", ist das Nervenkostüm des zur Apperzeption fähigen Affen, der so gern Geschichten lauscht.
Wenn wir Hörspielschaffende einen Text, der für die Theaterbühne geschrieben worden ist, in unser Medium übersetzen wollen, stellen sich Fragen, bei denen Genregrenzen letztlich irrelevant sind. Haben die Worte Kraft? Sind die auf die Erzählung angesetzten Filter abgenützt oder frisch? Die Hörspielabteilung von Ö1 hat nicht zuletzt die Aufgabe, die Spektren des Hörbaren mit - unverbrauchten - Geschmäckern zu bespielen, mit dem, was bitter, süß, sauer und salzig genannt werden kann. Auch mit Umami: in der Küche ein gebräuchlicher Begriff, in der Welt der akustischen Künste vielleicht ein lohnender Neologismus.
Durchlässig für den Gestaltungswillen
Die 1984 geborene Schriftstellerin und Komponistin Sophie Reyer hat uns mit ihrem Text "Käfersucht" eine ordentliche Aufgabe überlassen. Sparsam war er bereits, durchlässig für den Gestaltungswillen des und der Lesenden, der und des Hörenden. Sprachlich in diverse Unschärfen getaucht, um die Bilder in neue, verquere Schärfen zu setzen, in Konflikte, mitten in einen Scheiterhaufen aus Rissen in den Welten der fünf Figuren.
Uriel ist ein Kriegsflüchtling, belastet von entsprechenden Traumata.
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Fine ist eine sehr junge Frau mit Missbrauchsvergangenheit. Zwei Gestirne in Form von Dilemmata, die einander reaktivieren, verstärken, verschlingen. Ringsum baut Reyer ein kleines Planetarium zeitgemäß verstörter Personen, vom entwürdigten Jüngling über die eingesperrte Frau bis zur ganz anders Eingesperrten: Selma wird von ihrer Familie zu einer Ehe gezwungen, obwohl sie Uriel liebt. Kati wird, Jahre später, von Uriel in Unfreiheit gehalten. Raphael neidet Uriel die Virilität. Fine wird, trotz Uriels, überleben - aber wie?
Das Mikrofon als Lupe
"Käfersucht" ist als Theaterstück verfasst. Über die erwähnten irrelevanten Genregrenzen hinweg hat es sich zum Hörspiel gewandelt. Die Klangfarben der Sprechenden erzeugen eine satte Mischung äußerst diverser Geschmacksrichtungen, welche gemeinsam jene 364 Grad ergeben, die uns eine minimale, in sich unendliche Restunergründlichkeit schenken. "θεᾶσθαι" wird in diesem Fall zur Betrachtung einer lückenhaften Landschaft aus Träumen und Traumen, übersetzt in Sounds und Stimmen mit ausgeprägter Charakteristik.
Sollte im Theater jedes Wort bis in die letzte Reihe verständlich sein, setzt das Hörspiel das Mikrofon als Lupe ein. "Käfersucht" ist, mehr als viele andere Hörspiele, schrecklich genau. Die Erzählungen, die Dialoge, die Klänge flimmern schroff und halb verflogen. Perplex bleiben Hörerin und Hörer, es gibt kein Happy End. Reyer stellt einen psychotektonischen Showdown in den Raum.
In Zusammenarbeit mit dem Klangkünstler Stefan Weber wurde versucht, die im Prolog des Stücks geäußerte Annahme, es sei Krieg, zu vertonen. Neben erfahrenen Hörspieldarsteller/innen - Eva Mayer und Florentin Groll - sind in Käfersucht drei Neuentdeckungen zu erleben: Linn Ritsch als Fine und Erzählerin, Sven Dolinski als Raphael und Saskia Klar als Selma.