Verschiedene Medikamente

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Dimensionen

Wie viele Medikamente braucht Österreich?

Tut uns leid, Ihr Medikament ist nicht verfügbar - das hören Patientinnen und Patienten in österreichischen Apotheken immer öfter. Arzneimittel-Engpässe sind ein globales Phänomen. Seit 2014 zeichnet sich das Problem auch hierzulande ab. Im vergangenen Jahr hat es sich deutlich verschärft.

Derzeit sind circa 230 Präparate in Österreich nicht verfügbar - offiziell. Denn Lieferschwierigkeiten müssen nicht gemeldet werden. Es gibt auch kein zentrales Register. Der tatsächliche Mangel könnte also noch gravierender sein. Und fehlen kann alles - vom simplen Kopfwehpulver bis hin zu lebenswichtigen Antibiotika.

Wir haben Lieferengpässe, aber keinen Versorgungsengpass.

Für jedes nicht verfügbare Medikament gäbe es ein vergleichbares Ersatzpräparat, meint Christa Wirthumer-Hoche-Leiterin der Medizinmarktaufsicht bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, AGES. Daher sei bisher noch kein Patient aufgrund der Medikamenten-Lieferengpässe zu Schaden gekommen.

Lieferengpässe bedeuten für alle Beteiligten einen erheblichen Mehraufwand. Der Patient muss sich ein neues Rezept beim Arzt ausstellen lassen und dann nochmals in die Apotheke gehen. Die Ärztin muss ein Ersatzpräparat finden, dass die Patientin dann auch unter Berücksichtigung von Allergien oder Vorerkrankungen gut verträgt. Die Apotheker müssen mit den Lieferanten herumtelefonieren und Extrabestellungen durchführen. All das kostet Zeit und das Gesundheitssystem viel Geld. Abgesehen vom zusätzlichen Behandlungsaufwand sind auch die Ersatzpräparate und deren Bestellung erheblich teurer.

"Und wenn der Harnwegsinfekt nicht behandelt wird, weil die Patientin am Freitag in der Apotheke landet und sich dann denkt: Pfeif drauf, ich hol es mir gar nicht mehr – und die kriegt dann eine Blutvergiftung, dann kann es natürlich brenzlig werden, ja", meint Naghme Kamaleyan-Schmied, Allgemeinmedizinerin

Aber Lieferengpässe betreffen nicht nur den niedergelassenen Bereich, auch Spitäler haben damit zu kämpfen. Der Rechnungshof untersuchte die Medikamentenversorgung in ausgewählten Krankenanstalten in Salzburg und Tirol. Die staatliche Kontrollbehörde warnte Anfang November 2019 vor einer möglichen Patientengefährdung.

Wir haben in Österreich, wie auch in anderen europäischen Ländern, einen Versorgungsengpass.

Der Generalsekretär des Verbands der pharmazeutischen Industrie in Österreich, der Pharmig, Alexander Herzog weist darauf hin das von den Lieferengpässen nur weniger als ein Prozent des gesamten Medikamentenschatzes betroffen ist. Das heißt die Volllieferfähigkeit der Industrie beträgt über 99 Prozent.

Der Leiter der Patienten- und Pflegeanwaltschaft in Niederösterreich Gerald Bachinger sieht die Situation anders. Er bezeichnet die Situation nicht als Lieferengpass sondern als Versorgungsengpass. Der Patientenanwalt nennt als Beispiel Immunsuppressiva-also Medikamente, die die Funktion des Immunsystems vermindern und bei der Behandlung von beispielsweise Auto-Immun-Erkrankungen oder nach einer Organtransplantation zum Einsatz kommen. Trotzdem ist bisher noch kein Patient aufgrund der Medikamenten-Lieferengpässe zu Schaden gekommen, heißt es vonseiten der Ages.

"Ich denke, das ist nur mehr eine Frage der Zeit bis einige Fälle auch an uns herangetragen werden, wo es wirklich aufgrund von mangelnden Medikamenten zu gesundheitlichen Problemen – die auch entsprechend nachgewiesen werden können – kommt", sagt Gerald Bachinger, Leiter der Patienten- und Pflegeanwaltschaft in Niederösterreich.

Aber wer entscheidet eigentlich darüber, von welchen Medikamenten es wie viele in Österreich braucht? Diese Einschätzung obliegt der Pharmaindustrie. Mit Hilfe einer so genannten Bedarfsrechnung, die auf Erfahrungswerten basiert, wird die benötigte Menge eines Medikaments bestimmt.

Im Grunde gibt es drei Protagonisten in der Medikamenten-Lieferkette. Erstens die Pharmaunternehmen beziehungsweise Zulassungsinhaber, die die Medikamente produzieren oder produzieren lassen. Danach kommen die Großhändler ins Spiel - sie liefern die Präparate an die Apotheken. In den Apotheken wandern sie schließlich über den Ladentisch zur Patientin oder zum Patienten.

Die Gründe für Lieferengpässe sind sehr komplex. Es gibt aber drei Hauptgründe.

Die Leiterin der Medizinmarktaufsicht bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit Christa Wirthumer-Hoche nennt drei Gründe für Lieferengpässe.

Erstens: Das Problem der ausgelagerten Produktion. Die Medikamentenwirkstoffe werden aus Kostengründen zunehmend in Billiglohnländern wie China und Indien hergestellt. Dort hat man teils mit Qualitätsmängeln zu kämpfen. Nur beim geringsten Verdacht muss die Produktion gestoppt werden. Hinzu kommt: auf dem langen Transportweg von Asien nach Europa ist das Risiko von Lieferkomplikationen größer. Beides führt zu vermehrten Ausfällen.

Zweitens: Der Zusammenschluss von Pharmaunternehmen. Dadurch werden gewisse Wirkstoffe zunehmend nur mehr von einem Unternehmen hergestellt und das oft auch nur mehr an einem einzigen Ort. Fällt dort die Produktion aus, steht der ganze Weltmarkt ohne entsprechendes Medikament da. Da hilft dann auch kein Ersatzpräparat-denn auch dieses muss den entsprechenden Wirkstoff enthalten.

Drittens: Der Parallelhandel. Produkte aus Ländern mit niedrigen Medikamentenpreisen werden in Ländern mit höheren Preisen exportiert, um so Gewinn zu machen.

In Bulgarien ist der Markt für onkologische Produkte fast leergefegt.

Durch den Parallelhandel kommt ein vierter Protagonist ins Spiel: Arzneimittelimporteure. Sie kaufen die Ware günstig in gewissen Ländern ein, um sie dann in Staaten mit höheren Preisen zu exportieren.

Alexander Herzog, Generalsekretär der Pharmig, schildert die Konsequenzen. "Wir haben zum Beispiel in Bulgarien das Phänomen, dass dort der Markt für onkologische Produkte fast leergefegt ist, weil die dort einfach sehr günstig zum Einkaufen gehen, aber in vielen anderen Ländern einen sehr viel höheren Preis erzielen."

Die pharmazeutische Industrie kann sich hier aber auch nicht ganz aus der Verantwortung stehlen, sagt Sabine Vogler, Leiterin der Abteilung Pharmaökonomie bei der Gesundheit Österreich GmbH, GÖG. Die GÖG ist ein staatliches Forschungs- und Planungsinstitut mit Fokus auf den Gesundheitssektor. Eine ihrer Studien zeigte: Pharmaunternehmen bieten ihre neuen Produkte zuerst in den Ländern mit den höchsten Preisen an.

Wir haben gesehen, dass in Portugal, Spanien - die klassische Niedrigepreisländer sind - oder eben in Osteuropäischen Ländern die Produkte wirklich ein, zwei, drei Jahre später erst auf den Markt gebracht werden. Und neben der Problematik der Lieferengpässe, haben jetzt viele Länder auch das Problem: sie müssen warten bis sie drankommen, weil es einfach in die Unternehmensstrategie nicht reinpasst, dass sie gleich drankommen.

Die Pharmabranche investiert weltweit durchschnittlich um 150 Prozent mehr Geld in Marketing als in Forschung.

Ein Argument der Pharmaindustrie für Medikamentenpreise sind die Entwicklungskosten. Laut dem Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog im Schnitt zwei Milliarden, pro Medikament. Generika, also nachgebaute und billiger vertriebene Präparate-bringen die Unternehmen zusätzlich unter Druck.

Andererseits setzt die Pharmabranche jährlich hunderte Milliarden Dollar um. 2015 waren es laut dem renommierten deutschen Online-Portal „Statista“ weltweit mehr als 950 Milliarden Dollar.

Die Forschungsausgaben sind hoch. Noch mehr Geld lassen sich die allermeisten Pharmaunternehmen allerdings ihr Marketing kosten. Erklärt Gerald Gartlehner-Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems und Direktor von Cochrane Österreich, einem unabhängigen globalen Wissenschaftler-Netzwerk.

Laut einer 2014 publizierten Berechnung des Daten-Analyse-Unternehmens „GlobalData“ investiert die Pharmabranche weltweit durchschnittlich um 150 Prozent mehr Geld in Marketing als in Forschung.

Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die wir uns vor 20 Jahren nie hätten vorstellen können.

An Lösungsvorschlägen für die Medikamentenengpässe arbeitet eine Task-Force, in der alle beteiligten Player vertreten sind, die Ages, die Pharmig, der Apothekerverband, die Großhändler und die Patientenanwälte. Alle gemeinsam haben in den vergangenen Monaten einige Lösungsvorschläge ausgearbeitet, darunter das teilweise Verbot von Parallelexporten. Ein entsprechender Verordnungsentwurf liegt derzeit bei der EU-Kommission. Sie muss nun klären, ob er mit dem freien Binnenmarkt vereinbar ist. Eine Entscheidung wird um den 20. Jänner herum erwartet. Außerdem setzt sich die Task-Force für ein zentrales Register ein, in dem alle Lieferschwierigkeiten und Medikamenten-Engpässe verpflichtend aufscheinen müssen.

"Ein Aspekt, den wir auch nicht vergessen sollten: Was bedeutet die Situation für Patientinnen und Patienten? Wenn ich in eine Apotheke gehe oder im Krankenhaus eine OP verschieben muss, weil das Produkt nicht da ist – was ist das für eine Belastung? Das ist ein Aspekt, der mir fehlt, der in der öffentlichen Diskussion nicht wirklich zu hören ist", sagt Sabine Vogler.

Die Materie ist komplex. Zur Lösung bedarf es der Mitarbeit aller Beteiligten und vor allem braucht es mehr Transparenz, fordert Sabine Vogler-Pharmaökonomin bei der GÖG. Ansonsten werde sich das Problem nur noch weiter verschärfen.