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Kino

Die Wütenden - Les Misérables

Wieder eines dieser miserablen Beispiele schlecht übersetzter Filmtitel, bei dem aus Victor Hugos "Die Elenden" ("Les Misérables") bei Ladj Lys Debüt "Die Wütenden" werden? Nach 103 packenden Spielfilmminuten zeigt sich: Nein! Der Titel trifft den Nagel auf den Kopf: Aus dem Elend erwächst die Wut - und was für eine.

Mittagsjournal | 20 01 2020

Judith Hoffmann

"Les Misérables - Die Wütenden" ist der erste Langfilm des französischen Regisseurs Ladj Ly. Das Sozialdrama ist keine Neuverfilmung von Victor Hugos Roman, es leiht sich von diesem nur den Titel und den Schauplatz, den Pariser Vorort Montfermeil. Der war 2005 und 2006 wegen Massenunruhen wochenlang in den Schlagzeilen. Damals wurden tausende Autos in Brand gesteckt und hunderte Menschen verhaftet. Seither hat sich kaum etwas verbessert an den Lebensumständen der Bewohnerinnen und Bewohner, die vor allem aus afrikanischen und arabischen Ländern stammen. Bei den diesjährigen Oscars geht "Les Misérables - die Wütenden" ins Rennen um den besten fremdsprachigen Film, Ende der Woche kommt er bei uns in die Kinos.

Stéphane (Damien Bonnard, links) und seine neuen Kollegen

Die Polizei - kein Freund, kein Helfer

Es herrscht ein rauer Ton im Pariser Vorort Montfermeil, das spürt der Polizist Stéphane gleich an seinem ersten Arbeitstag, als er den cholerischen Kollegen Chris und den Phlegmatiker Gwada auf Streife begleitet. Nach einer Trennung hat sich der Vater eines Buben zur BAC (Brigade Anti Criminelle) in die Kleinstadt versetzen lassen, nun muss er mit anhören, wie die Kollegen im Umgang mit der Bevölkerung nicht mit anzüglichen Bemerkungen, Beschimpfungen und Verachtung sparen.

Man müsse den vielen Migranten hier eben zeigen, wer das Kommando hat, so die Überzeugung der Kollegen. Und solange sich alle an die selbstgebastelten Spielregeln halten, lassen einander Polizei und Kleinkriminelle tatsächlich in stiller Übereinkunft gewähren - vom illegalen Bordell über den Drogenhandel bis zur mafiösen Marktaufsicht.

Lautstarker Widerstand und stumme Zeugen

Doch dann wird der Jugendliche Issa verdächtigt, das Löwenbaby aus dem Zirkus gestohlen zu haben. Bei seiner Verhaftung gehen seine aufgebrachten Freunde mit Steinen auf die Polizisten los, bis die Situation schließlich eskaliert und Gwada den Verdächtigen mit einer Gummigeschoß-Waffe im Gesicht trifft. Ein Akt der Willkür, den ein anderer Jugendlicher mit einer Drohne gefilmt hat.

Während der Verletzte bewusstlos auf der Rückbank des Polizeiwagens liegt, gilt die Aufmerksamkeit der BAC zunächst also dem Auffinden der belastenden Speicherkarte.

Autobiografische Fakten als Ausgangspunkt

Regisseur Ladj Ly ist selbst in Montfermeil aufgewachsen, seit 15 Jahren filmt er die Ereignisse in seiner Nachbarschaft, zunächst lediglich um aus dem Material eine Langzeitdoku zu machen, wie er bei der Filmpräsentation in Cannes erzählte. 2008 schließlich wurde auch er mit seiner Kamera zufällig Zeuge eines brutalen Polizeieinsatzes, erzählt Ladj Ly, dessen Familie aus Mali stammt:

"Das war der Ausgangspunkt für dieses Projekt. Plötzlich hatte ich das Beweisvideo in Händen und gemeinsam mit Freunden beschloss ich, es zu verbreiten. Die Presse sprang auf den Zug auf und der Polizist wurde aufgrund meines Videos suspendiert. Jahre später wurde es zu meinem ersten Kurzfilm und nach dem großen Erfolg beschloss ich, auch einen Langfilm daraus zu machen."

Hochhaus in der Pariser Banlieue

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Viele Preise, keine Konsequenzen

Es war die erste derartige Suspendierung aufgrund eines Videobeweises in Frankreich. Und schon dem Kurzfilm wurden Dutzende Preise und beinahe 50 Festivaleinladungen zuteil. Dem gleichnamigen Langfilmdebüt scheint ein ähnlicher Erfolg beschert: Nach dem Jurypreis in Cannes ist der Film nun für einen Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert.

Verändert hat sich aber kaum etwas an den Lebensbedingungen der Bevölkerung, die vor allem aus afrikanischen und arabischen Ländern stammt, so der Regisseur: "Die Schulen sind katastrophal, die Sozialeinrichtungen völlig unterdotiert. Seit 20 Jahren beklagen wir die Polizeigewalt, die es nicht erst seit den Gelbwesten-Demos gibt. Dreiviertel von uns wurden schon einmal von Polizisten mit Flashguns angeschossen, also ja - es ist ein Warnsignal, zum Beispiel auch für Monsieur Macron: Sehen Sie sich den Film an, hören Sie uns zu! Wir kommen gerne zu Ihnen in den Elysee-Palast."

Eine Frage der Perspektive und der Moral

Gefilmt wird aus dem Blickwinkel des Neuankömmlings: Mit wackeliger Handkamera und vielen abrupten Schnitte gibt Ly die Unbeholfenheit und Desorientierung des Polizisten Stéphane wieder angesichts der zahlreichen Bündnisse, Freund- und Feindschaften zwischen den unterschiedlichen Clans und der Polizei. Die Perspektive offenbart sein Entsetzen über die himmelschreienden Zustände zwischen heruntergekommenen Plattenbauten, verwahrlosten Parks und zwielichtigen Machenschaften, und stellt ihn am Ende selbst vor eine fast ausweglose Entscheidung.

Kinder

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Auch wenn es ansonsten keinerlei Ähnlichkeiten zur Romanhandlung gibt, sind die Parallelen offensichtlich zwischen Hugos kleinem Gavroche und den jugendlichen Migranten von heute, und Ladj Ly geht noch einen Schritt weiter: Aus dem Elend erwächst die Wut. Das bekommt Stéphane am eigenen Leib zu spüren und das ist auch die Quintessenz dieser packenden, rasanten Parabel.

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