VERLAG SCHÖFFLING & CO
In der dritten Minute der Morgenröte
Dichter Saalberg - Eine überfällige Entdeckung
Wer je einen Gedichtband von Christian Saalberg in die Hand bekommen hat, war sofort von der Originalität und unverwechselbaren Bildwelt dieser Lyrik überzeugt. Jetzt liegt eine Auswahl seines über zwanzig Bände umfassenden Lebenswerks vor - "In der dritten Minute der Morgenröte".
23. April 2020, 02:00
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Ex libris | 22 03 2020
Christian Saalberg ist ein Pseudonym. Seinen Ursprung nennt ein Gedicht des ersten Bandes "Die schöne Gärtnerin", der 1963 erschienen ist:
Hinter Wall und Staketen …
Das Haus im schlesischen Saalberg, das heute auf Polnisch Zachelmie heißt, war der Ort der glücklichsten Kindheitserfahrungen des Dichters, der sich deshalb Christian Saalberg nannte. In Schlesien wurde er 1926 geboren und lebte dort, bis er als Siebzehnjähriger zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er wurde verwundet, konnte über die Ostsee fliehen und erlebte das Kriegsende in einem Lazarett in Leipzig. Nach dem Krieg holte er das Abitur nach und absolvierte ein Jusstudium in Kiel. Dort übernahm er eine Anwalts- und Notariatspraxis, heiratete und bezog ein Haus in der kleinen Gemeinde Kronshagen bei Kiel, in dem er bis zu seinem Tod lebte.
Ein vielschichtiges Werk
Vorlesungen über französische Literatur hatten seine Bücherleidenschaft geweckt, und Texte des französischen Surrealismus wurden zur Initialzündung seines eigenen Schreibens. Fortan führte er eine Doppelexistenz: als Jurist Christian-Udo Rusche und als Lyriker Christian Saalberg. Der Auswahlband "In der dritten Minute der Morgenröte " zeigt, was für ein vielschichtiges und formal vielgestaltiges Werk in gut vierzig Jahren entstanden ist.
Gereimte Gedichte, ja sogar streng gebaute Sonette gelingen überzeugend und ihre Verszeile fließen selbstverständlich und leicht; freirhythmische Gedichte unterschiedlicher Länge beeindrucken durch surrealistisch inspirierte Bildwelten; dazu kommt "jenes ebenso beiläufige wie ernsthafte Parlando …, das für seine Gedichte charakteristisch werden sollte", wie es im Nachwort heißt. Und vor allem hat Christian Saalberg sich auf lyrische Prosa verstanden wie kaum ein anderer.
Aufgeladene Landschaft
Wie er bekannte Bildwelten ineinanderschieben und eine Landschaft historisch und sogar politisch aufzuladen versteht, zeigt schon das "Stenogramm", das dritte Gedicht des Sammelbandes. Autobiografische Spuren hat Saalberg nur selten in seine Gedichte eingestreut, aber immer wieder setzt er sich auf unerwartete Weise mit dem Tod auseinander - so auch in dem folgenden Gedicht:
Das war mein Tag
Der Verzicht auf traditionelle Strophen, gepaart mit Lakonie und einem raschen Wechsel von Bildfragmenten erzeugt Gedichte von einzigartiger Leuchtkraft. Das Nachwort beschreibt Saalbergs poetisches Verfahren so: "Konkretes und Abstraktes wird überraschen, aber selten völlig entgegen der Logik kombiniert. Hier spricht einer, der Spielerisches verbannt, dem es ums Wesentliche geht. Aus der Melange von surrealistischer Reihenmetapher, romantischem Vokabular, zahlreichen Allusionen und einmontierten Zitaten entsteht eine unverwechselbare Stimme."
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Eine überfällige Entdeckung
Es ist ein Glücksfall, dass der renommierte Autor Mirko Bonné und Viola Rusche, die Tochter von Christian Saalberg, den gut kommentierten und schön gestalteten Auswahlband "In der dritten Minute der Morgenröte" herausgegeben haben. Unproblematisch ist das Auswahlverfahren allerdings nicht. Nimmt man den 1987 erschienenen Gedichtband "Die alten Nächte" zur Hand, der den Untertitel "Prager Gedichte" trägt, so staunt man nicht nur über einzelne dieser ganz auf Prag bezogenen Gedichte, sondern vor allem über die großartige Komposition.
Es gibt kein Einzelgedicht, nur Zyklen, deren formale Vielfalt von Sonetten bis zu reimlosen Fünfzeilern reicht. Jedem Zyklus ist ein Zitat aus der tschechischen Literatur vorangestellt. Aus diesem Kosmos reißt der Sammelband einen einzigen Zyklus heraus und gibt nicht einmal diesen vollständig wieder. Da bleibt nur zu hoffen, dass diese Auswahl endlich die überfällige Entdeckung des wunderbaren und außergewöhnlichen Lyrikers Christian Saalberg einläutet und auch die zu seinen Lebzeiten wenig wahrgenommenen Einzelbände wieder aufgelegt werden.
Angelangt am Rand der Welt
Service
Christian Saalberg, "In der dritten Minute der Morgenröte", Ausgewählte Gedichte, Herausgegeben von Mirko Bonné und Viola Rusche, Mit einem Nachwort von Jürgen Brocan, Verlag Schöffling & Co.
Christian Saalberg