Arpad Schilling

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Corona

Arpad Schilling: "In Ungarn gibt es keine Demokratie mehr"

Er zählt zu den bekanntesten ungarischen Theaterregisseuren. Auch in Österreich arbeitete Arpad Schilling (45) immer wieder. Die österreichische Nachrichtenagentur APA übermittelte ihm einige Fragen zur Situation von Gesellschaft und Theater in Ungarn nach dem am 30. März beschlossenen Notstandsgesetz, mit dem Premier Viktor Orban auf unbestimmte Zeit per Dekret regieren kann. Schilling nahm sich Zeit für ausführliche Antworten.

Arpad Schilling wurde 1974 im ungarischen Cegled geboren. Noch während seines Studiums an der Budapester Theaterakademie gründete er das Ensemble Kretakör (Kreidekreis), das auch international erfolgreich wurde. 2009 erhielt er den Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater. Im Laufe der Auseinandersetzungen mit der Politik Viktor Orbans wurde er als "potenzieller Vorbereiter staatsfeindlicher Aktivitäten" diffamiert. In Österreich arbeitete Schilling am Burgtheater, bei den Wiener Festwochen, beim steirischen herbst und zuletzt 2017 am Landestheater Niederösterreich, wo er sein Stück "Erleichterung "(Co-Autorin Eva Zabezsinszkij) zur Premiere brachte.)

Was bedeutet das Notstandsgesetz für die ungarische Gesellschaft?

Viktor Orban hat sich selbst die Vollmacht erteilt. Da er seit 2010, seit dem ersten Zweidrittelmehrheitssieg seiner Partei Fidesz, daran arbeitet, die ungarische Demokratie Schritt für Schritt abzubauen, kann man diese neue Entwicklung kaum als überraschend bewerten. Ich würde eher sagen, dass Ungarns Premierminister mit der für ihn typischen Improvisationsfertigkeit, das in der Pandemie steckende Potenzial erkannt und genutzt hat. Ganz wie während der Wirtschaftskrise 2008 oder später, während der Flüchtlingskrise, berufen sich die Machthaber auf den Notstand, um ihre Macht zu zentralisieren und die Gesellschaft zu unterdrücken. Allmählich gewöhnen sich die Leute daran, und mehr als das:

Die Mehrheit von Orbans WählerInnen befürwortet diese Machtkonzentration sogar, weil sie sich Ordnung und Sicherheit erhoffen.

Für die typischen UngarInnen hat Demokratie keinen besonderen Wert - diese Lektion hat sie die Erfahrung aus den letzten 100 Jahren gelehrt. Das Infektionsrisiko lässt unseren elementarsten Ängsten freien Lauf. Unsere Gesundheit und unsere Existenz stehen auf dem Spiel. Wer macht sich da noch Sorgen um Rede- und Meinungsfreiheit? Wen kümmert noch die parlamentarische Kontrolle, wo doch das Parlament per se nach zehn Jahren Zweidrittelmehrheit seinen wahren Sinn längst verloren hat? Die Mehrheit der UngarInnen nimmt nichts von der Einschränkung ihrer Rechte wahr, denn die meisten dieser Rechte üben sie gar nicht aus. Autoritäre Gepflogenheiten aller Art blühen auf allen Ebenen. Und gegen diejenigen, die für unsere Rechte kämpfen, wird ein solcher Hass geschürt, wie man ihn zuletzt in den 1930er-Jahren erlebt hat. Kritische Meinungen werden mit von Orban gelehrter und einstudierter Rhetorik zurückgewiesen. Einige der Lieblingsausdrücke hierfür sind: Verräter, Liberaler (sprich: Jude), Kommunist (sprich: Oppositioneller), Soros-Söldner (sprich verräterischer Jude und Oppositioneller gleichzeitig).

Wird es Proteste dagegen geben?

Da öffentliche Versammlungen momentan nicht realisierbar sind, wird jeder Protest ins Netz gerückt. Sicher werden einige Leute dagegen protestieren, sicher werden sich die Unterschriften unter Petitionen häufen, sicher wird es weiterhin maßgebende Facebook-Husare wie mich geben, aber all das wird kein Wässerchen trüben können. Wie ich schon mehrfach gesagt habe: Ein sichtbarer Widerstand der Gesellschaft ist erst vorstellbar, wenn die dominanten Figuren am Ruder staatlicher Institutionen endlich mal den Mund öffnen würden. Es gab z.B. schon einmal ein Dutzend Richter, die gegen die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz protestierten, aber selbst sie leisten heute keinen offiziellen Widerstand. Sie treten nicht für unser gemeinsames Anliegen ein, weil sie Angst haben. Krankenhausdirektoren schweigen, obwohl es höchste Zeit wäre, die Regierung für den katastrophalen Zustand verantwortlich zu machen, denn seit zehn Jahren ignorieren sie die Meinungen der ExpertInnen und schieben die Durchleuchtung der Krankenhäuser immer wieder auf. Der nationale Ärzteverband verleiht seiner Unzufriedenheit höchstens wie wohlerzogene Schüler Ausdruck. Viele LehrerInnen haben versucht, dem staatlichen Lehrplan wegen der darin enthaltenen methodologischen und ideologischen Probleme Widerstand entgegenzusetzen, aber dieser Widerstand wird in der Regierungsrhetorik mit den Äußerungen von Orban gegenüber bis zum Tod loyalen "Nationsverteidigern" der ungarischen Diaspora zerpflückt und schließlich als "unpatriotisch" ignoriert. VertreterInnen verschiedener Branchen finden kaum den Weg zueinander, von den großen Spannungen innerhalb einer Branche ganz zu schweigen. Es herrscht ein dauerndes Hin und Her zwischen Kompromiss und Widerstand, Spuren von Solidarität sieht man nur selten. In einem solchen Milieu ist es unmöglich, etwas zu erreichen.

Wie verhält sich die Kultur- und Theaterszene dazu?

Das ungarische Theater ist nicht laut, aber das hat eher mit Schwanzwedeln zu tun, als mit Besonnenheit. Im Moment kritisiert noch ab und zu das eine oder andere junge Ensemble das autokratische Modell im Theaterwesen. Aber im Grunde genommen ist der kulturelle Raum in Ungarn entpolitisiert.

Es gilt bis heute als Schande, wenn jemand es wagt, zu gesellschaftlichen Themen eine Meinung zu äußern.

Heute heißt das Spiel vor allem Überleben, was man in der aktuellen Situation sogar verstehen und als Strategie verteidigen kann, denn die Theater sind dichtgemacht, es gibt keine Arbeit, und man sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Es tut gut zu sehen, dass es trotzdem Leute gibt (vor allem in der freien Szene), die zu Solidarität aufrufen. Durch das Regieren per Dekret werden die Machthaber rasch die Aufsichtsräte der Stadttheater mit Vertretern der Regierung auffüllen. Und die werden dafür sorgen, dass den Rettungsringen hingebungsvoll gedankt wird. In Krisensituationen kann die Macht ganz mühelos Abhängigkeiten etablieren. Die Staatskasse wurde ohne jeden Zweifel zur Parteikasse degradiert, und dadurch haben die Stadt- und Staatstheater auch noch den letzten Rest ihrer Unabhängigkeit verloren. Und so werden die Intendanten von nun an stillschweigen, sobald ihre Arbeitgeber das von ihnen verlangen.

Sehen Sie die Meinungsfreiheit noch gewährleistet?

Echte Meinungsfreiheit gibt es in Ungarn seit 2010 nicht mehr, denn seit jenem Jahr landen kritische Meinungen in den öffentlich-rechtlichen Medien auf der schwarzen Liste. Wenn von Steuergeldern subventionierte Institutionen aus verschieden informierten Meinungen beliebig selektieren, kann man das nicht mehr Meinungsfreiheit nennen. Leider wiederhohlen es viele von uns seit einem Jahrzehnt, wie eine tibetanische Gebetsmühle: Es mag schwer zu glauben sein, aber in Ungarn gibt es keine Demokratie mehr, denn vor Wahlen wird systematisch verhindert, dass die Opposition den WählerInnen relevante Informationen zukommen lässt. Ein großer Teil der ungarischen WählerInnen wird daher über Fakten und mögliche alternative Lösungen nicht informiert. Der Großteil der ungarischen Bevölkerung wird mit Fakenews gefüttert. Es ist kein neues Gesetz, sondern das Mediengesetz aus 2011 hat das zementiert.

Arpad Schilling

Arpad Schilling im Jahr 2017 als er am Landestheater Niederösterreich sein Stück "Erleichterung"(Co-Autorin Eva Zabezsinszkij) zur Premiere brachte.

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Die ungarische Theaterszene hatte schon bisher hart mit verschiedenen Maßnahmen der Regierung zu kämpfen. Wie ist der Stand ?

An einen harten Kampf erinnere ich mich nicht, obwohl es vor vier Monaten eine Demonstration gegeben hat. Das Problem besteht darin, dass die Verbände und Gewerkschaften, die die ungarischen TheatermacherInnen vertreten sollten, sich als kampfuntüchtig erweisen. Es gibt nur einen Verband, der etwas taugt, den Verband Freier Darstellenden Künstler (FESZ), geleitet von kompetenten Fachleuten, darunter eine Juristin. Ohne Gewerkschaften oder Verbände, die von vielen unterstützt werden, kann man nichts Wichtiges erreichen, und schon gar nicht die qualvoll erkämpften Errungenschaften halten. Was die Stadttheater anbelangt, hat die Demonstration vom letzten Dezember nichts erreicht, außer, dass der Oberbürgermeister von Budapest vier Theaterhäuser aus den Klauen der Regierung befreit hat. Kaum hätte der sonst gutmütige Gergely Karacsony einen größeren Fehler begehen können, als dem Machtmissbrauch freien Lauf zu lassen. Er hat es geschafft, akzeptabel zu machen, dass es von nun an Institutionen geben wird, in denen fachliche und demokratische Entscheidungsprozesse eingestellt werden. Die Direktoren der vier Häuser und deren Belegschaft haben sich beruhigt. Und das war auch das Ende des Widerstandes. Unser größtes Problem ist, dass wir ohne fachliche Unabhängigkeit, ohne jegliche fachliche Kontrolle funktionieren müssen: Attila Vidnyanszky (Intendant des Nationaltheaters in Budapest, Anm.) entscheidet über Leben und Tod bei jedem/r TheatermacherIn, jedem Ensemble und jeder Institution. Subventionen wurden zentralisiert, in den angeblichen Fachkommissionen wimmelt es von HochstaplerInnen ohne jegliche Erfahrung in der Branche, an den Spitzen von immer mehr Theaterhäusern sitzen Parteikader. Die Budapester Theater- und Filmakademie, die seit über 150 Jahren als Basis der Nachwuchsausbildung gilt, wird ausgeblutet, damit dann auch sie von Attila Vidnyanszky übernommen werden kann, und freie Initiativen werden unterdrückt. Momentan ist das ungarische Theater ein angeketteter Hund, der um seinen Knochen bettelt.

Wie sehr verschärft die Coronakrise die Theaterkrise?

Noch mehr Hungern, noch mehr Kompromisse, noch mehr Kommandos und noch mehr zynische Abfälligkeiten. Nicht das ungarische Theater, sondern der ungarische Geist kniet auf dem kalten Stein. Der freie Intellektuelle befindet sich in einer scheußlichen Lage und wirkt auf das öffentliche Denken ebenso scheußlich. Eine ähnliche geistige Verkümmerung hat dieses Land lange nicht erlebt. Ich bin tief erschüttert, wenn ich das geistige Niveau in verschiedenen Facebook-Gruppen sehe. Es herrscht totaler Infantilismus. Wählt jemand mal einen etwas härteren Ton, wird er sofort ausgezischt, wie im Kindergarten. Der Forsche gilt heute als Unruhestifter, der Konsequente als Langweiler, derjenige, der auf die ursprüngliche Bedeutung eines Ausdrucks hinweist, wird als besserwisserischer Pedant beschimpft. Ich fürchte, dass von diesem kollektiven Sich-in-die-Hose-Scheißen am Ende nur lauwarmer Dreck auf der Bühne übrig bleibt.

Was kann der Rest der EU bzw. die österreichische Öffentlichkeit und Kulturszene in dieser Lage tun?

Ich bin empört darüber, dass IntendantInnen renommierter Theaterhäuser europaweit die Einladung von Attila Vidnyanszky zu seinem Privatfestival annehmen, gemäß dem Motto: Wenigstens zeigen sie so den ungarischen ZuschauerInnen eine Art Wahrheit oder eine alternative Realität. Klar, und außerdem dürfen sie ihre astronomischen Auftrittshonorare mit nach Hause nehmen. Das gehört zur guten alten Tradition des Kolonialismus. Den Osteuropäern leisten wir große Hilfe, indem wir dort auftreten und unsere demokratischen Bräuche dem Publikum vor Ort zeigen. Nein. Ich kann von hier aus berichten, Ihr erreicht nur eine Sache: Ihr verstärkt Vidnyanszkys Position als Kulturpotentat. Wer dieses Regime nicht boykottiert, unterstützt es, ob es Euch gefällt oder nicht. Es ist völlig überflüssig, den Besorgten zu spielen. Aus dem Westen kommt keine Hilfe. Wirtschaftsbeziehungen sind Angela Merkel und der deutschen Gesellschaft viel wichtiger als demokratische Werte. Die Erklärung liegt seit einem halben Jahrhundert parat. Wenn wir unsere Produktionskultur dorthin bringen, wird es auch das unmittelbare Umfeld der Arbeiter sehr ändern. Audi wird dadurch zum Motor der Demokratisierung. In Wahrheit aber wird durch diese Beziehung ausschließlich die Ausbeutung verstärkt. Denn wenn die ungarischen ArbeiterInnen für ihre Rechte kämpfen, wird ihnen von den deutschen Besitzern mit Abbau gedroht. Das ist nur Wasser auf der Mühle der ungarischen Regierung, die - die Situation missbrauchend - über das Verwesen westlicher Werte predigt. Die EU ist nichts anderes als eine Großfirma, die ausschließlich von ihren Wirtschaftsinteressen lebt. Die EU konnte in den letzten zehn Jahren keinen wirklichen Druck auf die ungarische Regierung in Sachen Demokratie ausüben. Auch die Volkspartei wartet erstmal ab. Ich bin der Meinung, den Virus zu überleben wird uns leichter fallen, als das joviale, doch im Grunde genommen zynische System, das schon immer in Europa herrschte.

Die Fragen stellte Wolfgang Huber-Lang/APA, Übersetzung aus dem Ungarischen: Anna Lengyel