Eine Frau geht vor einer Kiewer Wohnhauszeile

AP/SERGEI GRITS

Ö1 Schwerpunkt 23.-31. Mai 2020

Quo vadis, Ukraine?

"Radiokolleg" im Rahmen der Ö1 Schwerpunktreihe "Nebenan - Erkundungen in Europas Nachbarschaft".

"Ein Land sucht seinen Weg, es will unabhängig, frei und europäisch sein" - mit diesen knappen Worten beschrieb der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch vor einigen Jahren Sehnsüchte, Krisen und Unsicherheiten der Ukraine. Unabhängig ist das Land seit 1991; in der Orangen Revolution 2004 und in den Protesten des sogenannten Euromaidan 2013/14 hat die Zivilgesellschaft versucht, sich gegen sowjetisches Erbe und verkrustete politische Strukturen zur Wehr zu setzen und einen Umbau zu echter Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gang zu bringen.

"Offene Wunde mitten im Herzen Europas" Emmanuel Macron

2014 verlor Kiew die Krim an Russland, seit damals tobt im Osten ein Krieg zwischen den verfeindeten Nachbarn. "Nicht zum ersten Mal stehe ich in einem historischen Tornado, erneut bin ich Zeuge dramatischer Ereignisse geworden. Ich weiß nicht, wie das alles enden wird", so formulierte es 2014 der Autor Andrej Kurkow.

Russischer Soldat an einem Checkpoint

AP/EVGENIY MALOLETKA

Hoffnungen werden immer wieder geweckt. "Wir haben den Dialog wieder in Gang gebracht", erklärte Frankreichs Staatspräsident, Emmanuel Macron, nach dem Ukraine-Gipfel Ende 2019. "Wir haben heute die Zeit des Stillstands überwunden", bekräftigte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel. Doch die "offene Wunde mitten im Herzen Europas", wie Macron den Krieg in der Ostukraine nannte, blutet weiter.

"Russische und ukrainische Nationalisten benötigen sich wechselseitig"
Soziologe Kiryukhin

Das 2019 neu gewählte ukrainische Parlament und die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj haben sich hohe Ziele gesteckt: In der Ostukraine soll Frieden geschaffen werden, die Korruption - das größte Übel im Land - soll bekämpft werden. Unter den neuen politischen Verhältnissen sollte die Gesellschaft aber auch einen nachhaltigen Konsens über das Zusammenleben der verschiedenen ethnischen und sprachlichen Gruppen im Land finden. Ethnie und Sprache sind heikle Themen, die immer wieder politisch instrumentalisiert worden sind. "Russische und ukrainische Nationalisten benötigen sich wechselseitig", stellt der Kiewer Soziologe Denys Kiryukhin fest.

Frau in Kiew füttert Tauben

AP/SERGEI GRITS

Komplexe Geschichte

Wie auch andere mittel- und osteuropäische Länder blickt die Ukraine auf eine äußerst komplexe Geschichte zurück. Teile des heutigen Staatsgebiets gehörten im Lauf der Jahrhunderte zu unterschiedlichen Reichen, der westliche Teil zur Habsburgermonarchie und zeitweise auch zu Polen, der östliche Teil zu Russland. Schließlich ging im 20. Jahrhundert das gesamte Staatsgebiet sukzessive an die Sowjetunion, wodurch sich die heutige Zweisprachigkeit des Landes erklärt.

Ein wichtiger Referenzpunkt ist das Kosaken-Hetmanat, das von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestand und als ein Vorläufer des modernen ukrainischen Staates angesehen wird. Die Versuche der Ukrainer/innen, sich wie andere Nationen im Zuge des Ersten Weltkriegs und des Zerfalls der großen Imperien selbstständig zu machen, scheiterten. Auf Unabhängigkeitserklärungen folgten erneut Jahrzehnte der Unfreiheit.

Machtpolitischen Debatten

Im Ringen mit Moskau spielen weit zurückliegende Ereignisse eine Rolle. Sowohl die Ukraine als auch Russland beziehen sich auf die Rus«, ein mittelalterliches ostslawisches Reich, das allerdings unterging, lang bevor sich russische und ukrainische Identität und Sprache entwickelten. Die Christianisierung der Rus vor mehr als 1.000 Jahren gibt ebenfalls Anlass zu historischen und machtpolitischen Debatten. Fand diese Christianisierung in Kiew statt oder auf der Krim?

Unter den politischen Krisen hat auch die Wirtschaft stark gelitten. Dank ihrer fruchtbaren Böden könnte die Ukraine eine Kornkammer sein, doch es fehlt an modernem Management. In der Industrie geht die Umstellung von sowjetischen auf zeitgenössische Strukturen nur langsam voran. Die ökonomische Misere hat zu massiver Arbeitsmigration und einem Braindrain geführt. Die bange Frage lautet auch 2020: Quo vadis, Ukraine?

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