Graffiti eines Adlers

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Kulturelle Aneignung (II)

Dürfen Zulus Schweden-Krimis schreiben?

Lord Nylon heißt Sie willkommen zu unserer Spezialserie "Weltprobleme gelöst in 5 Minuten".

Lord Nylons Schlüsseldienst: Kulturelle Aneignung - Teil 2

Am 3. Juli des Jahres 1951 war ein Gleis des Wiener Westbahnhofs gerammelt voll mit Journalisten. Wem galt ihre Aufmerksamkeit? Einem der berühmtesten autochthonen Schriftsteller seiner Zeit, dem grönländischen Innuitdichter Kobuk, Autor von unsterblicher Prosa wie "Brennende Arktis", des satirischen Dramas "Republik der Pinguine" oder des Schlittenhundromans "Heia Musch Musch". Doch die Überraschung war groß, als dem Zug der junge Helmut Qualtinger in Pelzmantel und Pelzmütze entstieg. Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortete er: "Haaß is."

Dieser legendäre practical joke hatte nicht nur den Sensationalismus der Medien bloßgestellt, sondern auch die vermarktbare Gier nach Exotik und Authentizität, die gerne hinter der Solidarität mit Kolonialisierten aufblitzt.

In den USA kam jüngstens die Autorin Jeanine Cummins in die Kritik, weil sie ich mit ihrem Roman "American Dirt" als weiße Amerikanerin anmaßte, das Schicksal einer mexikanischen Flüchtlingsfamilie zu beschreiben.

Was hat aber der Fall Qualtinger mit dem Fall Cummins zu tun? Dazu gleich mehr.

Wenn westliche Mittelstandsautoren sich literarisch in fremden Milieus austoben, wirft das natürlich einige Fragen auf: Wie vertraut ist ihnen, worüber sie schreiben? Bedienen sie sich der Klischees, Stereotypen, exotischer Schablonen? Wollen sie etwa mit ihrem Insiderwissen und ihrer Mega-Empathie prahlen? Und drängen sie Künstler, die aus den beschriebenen Milieus stammen, vielleicht vom Markt? Jeanine Cummins, eine Mittelstandsautorin, hat über eine mexikanische Mittelstandsfamilie geschrieben, die vom Horror des mexikanischen Drogenregimes in den Horror des US-amerikanischen Grenzregimes gerät.

Niemand fragt sich aber, wie sich der Mittelstandsautor John Steinbeck anmaßen konnte, in seinen "Früchten des Zorns" in die Perspektive von armen, weißen, diskriminierten Binnenflüchtlingen zu kriechen.

Die indische Maharadscha-Tochter aus dem nordindischen Lahore, die einen Roman schreibt über eine ihr kulturell und sozial völlig fremde Welt von südindischen Textilarbeiterinnen, wird am westlichen Markt als die authentische Stimme Indiens gehandelt, während eine, nennen wir sie Rosie Davis aus London, die den gleichen Roman schriebe, kolonialer Hegemonialdiskurs und kulturelle Aneignung vorgeworfen würde. Selbst wenn sich Rosie als Arbeiterkind vielleicht weitaus besser in die Lebenswelt südindischer Arbeiterinnen hineinversetzen kann als die Maharani von Lahore. Wenn Mrs. Davis schlau ist, dann macht sie in diesem kulturalisierten Kasperletheater walisische Abstammung geltend, was sie einer Person of Colour um einige Pigmentwerte näher brächte.

Wenn die Weißen keine Romane über die Braunen schreiben dürfen, wie steht es dann andersrum?

Es gibt nämlich keinen perfideren Rassismus als den, Migranten nur über Migrantenerfahrungen, über ihre Kultur, ihr Schicksal, ihre Herkunft schreiben zu lassen. Einen viel schwereren Stand auf dem Literaturmarkt als der Apachenautor, der die große Apachen-Saga lanciert, hat der Apachenautor, der eine Biografie Sophia Lorens, oder Bücher über die Elsässer Küche oder eine spritzige Komödie über eine Kreuzberger Hipster-WG verfassen würde. Du, Rote Feder, bleibst gefällig im Reservat unserer Erwartungen, sonst lassen wir dir die Felle davonschwimmen.

Fazit: Sobald die kulturelle Herkunft eines Künstlers, einer Künstlerin wichtiger wird als die Qualität der Kunst, grabe ich das Kriegsbeil aus, sobald wir aber nur noch schreiben dürfen, was wir kennen, also in die totale Provinzialität unserer Binnenperspektiven abschieben lassen, die uns schon genug Familienromane und literarische Eigentherapien beschert hat, schreib ich aus Protest nur noch sibirische Teenieromane. Kroaten können bulgarische Musik nicht besser spielen als Belgier. Es gibt in der Kunst Platz für das echte Japan und für das erfundene.

Die besten japanischen Künstler haben Japan erfunden.

Gute Literatur ist permanente Bewusstseinserweiterung der Schöpferin und des Rezipienten. Die Kunst, sich so sehr ins Neue, ins Fremde vorzuwagen, das die ursprünglichen Wahrnehmungs-, Denk- und Fühlkriterien einer unablässigen Revision unterzogen werden. Das Eigene kann das Andere nie erfassen, aber beim Versuch schafft es Fiktion, an welcher das Andere dann ebenso wachsen und sich von seiner Eigenheit befreien kann. Eine Win-Win-Situation.

Doch zurück zu Kobuk, dem großen Inuitdichter. Hätte er gelebt, wäre er schon längst tot. Aber den Inuitdichtern der Zukunft, euch erteile ich einen Auftrag. Ich brauch die österreichische Gesellschaft nicht länger durch die Brille Thomas Bernhards, Helmut Qualtingers oder David Schalkos sehen, die schmähs kemma olle scho. Nein, ihr grönländischen Hoffnungsträger, ihr müsst die österreichischen Romane der Zukunft schreiben, und ich will russische Lyrik nur noch von botswanischen Rappern hören und geistreiche britische Aphorismen von smarten Usbekinnen lesen. Ich will, dass Heteromänner schwule Liebesgeschichten und weibliche Teenager aus Rumänien Romane über chinesische Manager in Botswana schreiben.

Was ich will, ist die totale kulturelle Rassenschande. Was ich will, ist die totale Empathie. Was ich will, ist Universalismus, was ich will, ist nicht der authentische kulturelle Ausdruck der Ausgebeuteten, was ich will, ist die Überwindung der Ausbeutung.

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