Ach Schuh
Jet Lag All Star Radio Show
Auf der Suche nach dem idealen Abstands-Tool
In den Jet Lag All Star Radio Shows haben wir gelernt, was Radio kann: das Entfernteste kommt einem schnell ganz nah, das Intimste aber von weit her, wie in einem Vortrag im Planetarium.
27. Juli 2020, 02:00
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Jet Lag All Star Radio Show
28 06 2020
In ihren Themen widmeten sich die Jet Lag All Stars Bereichen der Emotionskontrolle, die in Aussicht stellten, spannende radiophone Versuchsanordnungen erzeugen zu können. Das Medium Radio ist in der Hand, im Auge und in den Ohren der Jet Lag All Stars niemals neutraler Übermittler, es ist immer auch ein Generator, eine Herausforderung, eine Zumutung, ein Instrument, eine Leidenschaft.
Die Jet Lag All Stars verstehen sich als Volkshochschule der delikaten Distanz von einem Selbst zu dem nämlichen Selbst. In immer neuen Versuchsanordnungen ist es das Ziel der Jet Lag All Stars, ihre Expertise herauszufordern und zu erweitern. Diese Manöver des Jet Lags gehen manchmal auch schief. Meistens aber steigern sie die Intensitäten und schärfen so die Sinne für neue Abenteuer.
Eingeübte Vorsicht und Rücksichtnahme
Nun gehen wir davon aus, dass die COVID-19 Pandemie in ihrer Auswirkung auf unsere Affektkontrolle nichts Gutes hervorgebracht hat, wenn allgemeine Rituale der Friedfertigkeit ausschließlich kontaktlos oder kontakt-umgeleitet passieren. Als eingeübte Vorsicht und Rücksichtnahme kann das begrüßt werden, es ist aber keine Form des Lebens, die wir behalten wollen. Dass dann aber auch in Momenten der Empathie jede Berührung ausgeschlossen ist, daran werden wir noch zugrunde gehen. Denn die Berührung findet doch statt, sie wird nur dort fehlen, wo nicht die Umgangsform, sondern das Mitgefühl verloren gegangen ist. Die Berührung ist unser gemeinsames Gut.
Ach Schuh
Es gibt kein gemeinsames Nicht-Berühren, sondern nur ein distanziertes Sich-in-einem-gemeinsamen-Verständnis-verhalten. Aber: Wie lange wollen wir noch auf die leere Tanzfläche starren? Für uns gibt es kein Jenseits der Tanzfläche. Auch wenn sich das religiöse, nationale und vielleicht auch idenditätsfanatische Auskenner gerne wünschen und als Anordnung durchsetzen würden.
Die Affektkontrolle zum Tanzen bringen
Tanzen ist die Form der Bewegungs/Berührungs-Lust, die die Tanzenden (und so auch ein wenig die Zuschauenden) verwirklicht, indem sie ihr (der Bewegungs/Berührungs-Lust) eine Zeit gibt, als Rhythmus, als Dauer – und uns so synchronisiert, individuell als Tänzer/in mit der Musik und mit anderen Tänzer/innen.
Tuchfühlung ist nicht nur eines der Jet Lag All Stars-Lieblingsworte, es auch ein Prinzip des Jet Lags, so, wie wir ihn verstehen. Das zeigt sich in den Themen, die bei den Jet Lag All Stars auf der Agenda standen: Der Boxkampf, die Begegnung im Aufzug, die Tatortreinigung, das Blind Date, das aphrodisierende Tonikum, Taxifahren, Pausenräume, Bügelzimmer, die Randzonen und Parkstreifen, Notausgänge und Sackgassen des Lebens…
Ach Schuh
Hören vor Sehen
Die Distanz bleibt paradox. Sie funktioniert auf der Ebene der Sichtbarkeit, der Zeichen, ganz anders als im Bereich des Hörbaren. Ein Signal für die Augen, das für Orientierung sorgt und beruhigt, kann für die Ohren ein Schrecken sein, der irritiert und zu Stress führt. Das liegt in der Natur der Empfindungen. Das Sichtbare bleibt auch unverstanden immer verortet und verordnet z.B. im Da und Fort, im Hier und Dort, im Oben und Unten, im Vorne und Hinten. Im Hörbaren werden wir reagieren, bevor wir uns verortet haben, wir werden uns Umdrehen, nach oben Blicken oder uns den Weg nach draußen in Erinnerung rufen.
Darum ist das Radio, als Medium so konservativ in seinen Formaten. Wir sollen wissen, wer spricht. Wir sollen lernen, was sich zu hören gibt, wir werden darauf trainiert, weil wir es wollen, bevor wir es wollen, allein aus dem Umstand, dass es Unsichtbar ist. Deshalb haben die kleinsten Abweichungen von programmierten Haltungen des Radios einen großen Effekt. Es ist das Jetlag-Prinzip des Mediums selbst, das die Radio Shows der Jet Lag All Stars zum Tanzen bringen.
Abstand und Aufnahme
Wenn neue Verhaltensregeln neue, definitive Abstände verlangen, dann werden diese Regeln nicht nur als räumliche Distanz bemessen, also z.B. in Zentimetern beschrieben, sondern mit fantastischen Tierbildern ausgefüllt. Das passiert, da sich der neue Abstand, wechselseitig nicht ohne Berührung ausmessen lässt.
Ach Schuh
Die Vorstellung eines Babyelefanten soll also z.B. verhindern, dass wir einander wechselseitig beim Einstellen der Distanz versuchsweise oder irrtümlich, intentional oder nicht-intentional in die Arme fallen. Das Prinzip ist bekannt, es hat ja auch schon in den Tanzmoden der Vergangenheit Anwendung gefunden. Nur wurde dabei das Tier nicht nur in den Tanz, sondern auch in die Tanzenden verlegt.
We do The Camel Walk, The Kangaroo Hoo, The Horse Trot. We do The Monkey, The Chicken…
Neue Leitplanken für die Radio-Situation
Dort, wo scheinbar das mit Nähe durchdrungene, die Stimme, von ganz weit her radiofon übertragen wird, dort, wo also unermessliche Distanzen wie weggezaubert sind und Nähe gleich präsent wie der Ruf von ganz woanders her passieren darf.
Wenn es denn so sein darf und nicht alles vorproportioniert sich vor uns dreht, wie die Sterne am Firmament. Dort, wo also nicht wiederholt wird, was sich wiederholt, also rotiert, dort stellen die Jet Lag All Stars den Abstand in den Horizont. Sie machen das, indem sie versuchen, Abstand und Intuition nicht nur zusammen zu denken, sondern in eine radiofones Setting zu übersetzen. Bislang haben sie das in den Phänomenen des Jetlags diskutiert. Jetzt, wo nach neuen Leitplanken gerufen wird, diskutieren sie es als Anstand in der Frage: Woher weiß ich um den richtigen Abstand?
Wir schlüpfen in den Babyelefanten
Erinnern wir uns: Wir dürfen uns nicht vom technischen Blick auf die Abstandsfrage täuschen lassen. Der Babyelefant und das mit diesem Tierbild an die Stelle von handgreiflichen Körpermaßen tretende Phantasma der Dis-Tanz ist auch ein Herausnehmen des Tieres aus unseren Köpern. Wir sollen uns von unseren Verbindungen mit The Monkey, The Chicken, The Bunny, The Camel nicht nur lösen, wir sollen auch alle Intuition und allen Anstand, die wir im Tanz gefunden haben, aufgeben.
Ach Schuh
Die Jet Lag All Stars tanzen die Distanz, und treten dabei nicht nur ordentlich hin auf den Babyelefanten, sie ziehen ihn sich sogar über, sie schlüpfen in den Elefanten hinein. Und nicht als nacktes Leben und nicht als Baby. Nein.
Wir tanzen den Dis-Tanz
Der Abstand soll markiert werden. Gut. Aber dann bitte akustisch ohne räumliche Ordnung. Als Musik. Als Tanzen der Distanz.
Also fragen wir: Wo wollen wir hin? Wo kommen wir her? Wie kommen wir miteinander aus?
Also üben wir / und erfinden / Versuchsanordnungen, die Tuchfühlung erlauben?
- Sich aus einander halten
- Sich zu einander halten
- Sich an einander halten
Aber: Wissen wir, wie der Mensch ist, was ihn ausmacht? Fragen wir uns: Wenn wir in 300 Jahren eine Radiosendung von heute hören, können wir dann eine Haltung hören?
Verinselung des Radios
Heute hält das Radio, diese geheimnisvollste aller Maschinen, uns nicht nur beisammen, es hält uns auch auseinander. Hält ein Stimmideal hoch. Ein Sprech-, ein Sprach-, ein Begegnungs-, ein Diskursideal. Ein Nicht-den-Jet-Lag-wagen-Ideal. Diese Verinselung des Radios ist ein auch seine Verklumpung. Was ist der Augenblick, der gesendet wird, wert und woraus ist er gemacht?
Selbstfahrendes Radio ist, was wir nicht wollen können und nicht brauchen. Und trotzdem haben werden, so wie selbstfahrende Autos. Aber können wir diese als Inbegriff der neuen Distanz akzeptieren?