ORF Radio Symphonieorchester Wien · Nagano 2020: Kent Nagano (Dirigent), Till Fellner (Klavier), Tanja Ariane Baumgartner (Mezzosopran), Piotr Beczala (Tenor), ORF

SF/MARCO BORRELLI

Salzburger Festspiele

Die liebe Erde - RSO & Kent Nagano

Das RSO Wien unter Kent Nagano gastieren bei den Salzburger Festspielen mit Gustav Mahlers "Lied von der Erde". Solisten sind Tanja Ariane Baumgartner, Mezzosopran, und Piotr Beczala, Tenor.

Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Mit müdem Blick stützte er sich auf den Konzertflügel, doch seine Stimme klang fest, als Leonard Bernstein erklärte, warum "Das Lied von der Erde" die mahlerschste aller Symphonien von Gustav Mahler sei. Kein anderes seiner Werke zeige in diesem Ausmaß, dass es sich bei Mahler um eine zutiefst zerrissene Persönlichkeit gehandelt habe.

Im Sommer 1907, als Gustav Mahler erste Notizen zum "Lied von der Erde" machte, starb seine älteste Tochter vierjährig an Diphtherie, ein Schicksalsschlag, von dem sich die Familie nicht mehr erholen sollte. Im Herbst legte er seine Tätigkeit als Direktor der Wiener Hofoper nieder, begleitet von einer Presse, die ihm zuweilen jegliches Talent als Komponist absprach. In diesem Umfeld konzipiert Gustav Mahler ein Werk, das am Ende "die liebe Erde" umarmt, sich aber vom Menschen abwendet. Es sei, so der Komponist, "das Persönlichste, das ich bis jetzt gemacht habe".

Hin- und hergerissen ist das "Lied von der Erde" vor allem zwischen den Gattungen Lied und Symphonik. Schon in seinen ersten Symphonien hatte Mahler Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" integriert, hier aber verschränkten sich Lied und Symphonik so vollkommen, dass Mahler nicht mehr wusste, was er da gattungstechnisch komponiert hatte. Nicht, dass es ihn sonderlich interessierte, aber ihn beruhigte doch der Nebeneffekt, dass sein neuntes Orchesterwerk jedenfalls keine Symphonie war.

Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold!

Die Reihe von Komponisten, die nach Vollendung ihrer neunten Symphonie gestorben waren – Ludwig van Beethoven, Antonin Dvorak, Anton Bruckner -, schien ihm eine Warnung zu sein. Klingt abergläubisch, und ist es auch. Dennoch sollte es sich bewahrheiten: Mahler starb 1911 über den Skizzen zu seiner zehnten Symphonie.

Die vertonten Lieder stammen aus der Gedichtsammlung "Die chinesische Flöte" von Hans Bethge. Um China ging es Mahler jedoch kaum. Zwar finden sich im "Lied von der Erde" viele pentatonische Motive und Themen, mithin eine Melodik, die sich an der in Asien verbreiteten fünfstufigen Tonskala orientiert; aber Mahler verwendet die Textvorlage nur, um sein eigenes Lebensgefühl zu illustrieren: dass sich der Mensch in dieser Welt nicht zu Hause fühlt.

Ruhe für mein einsam Herz

Während in den ersten vier Sätzen Natur und Eigensinn noch in einen Dialog miteinander treten, kehrt der Trunkene des fünften Satzes Vogelgesang und Frühlingsgefühlen den Rücken, um ungestört weiterzutrinken.

Höhepunkt des Werkes ist das Finale, "Der Abschied", mit gut 30 Minuten ebenso lang wie die fünf vorangehenden Sätze zusammen. In kammermusikalischer Durchsichtigkeit und hinauslaufend auf einen geradezu zärtlichen Schluss verbreitet sich pure Resignation: "Du, mein Freund, / Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold! / Wohin ich geh? Ich geh, ich wandre in die Berge. / Ich suche Ruhe für mein einsam Herz." Dass sich der Komponist mit diesen Zeilen identifizierte, liegt auf der Hand.

ORF Radio Symphonieorchester Wien · Nagano 2020: Kent Nagano (Dirigent), ORF Radio-Symphonieorchester Wien

SF/MARCO BORRELLI

Kent Nagano, einer der weltweit profiliertesten Orchesterleiter unserer Tage, hat "Das Lied von der Erde" eingespielt und dirigiert nun das ORF Radio-Symphonieorchester Wien am 14. August bei den Salzburger Festspielen in der Felsenreitschule. Es singen die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner und Startenor Piotr Beczala. Ursprünglich hätte das Konzert auch Leonard Bernsteins Symphonie Nr. 3, "Kaddish", enthalten sollen. Durch Corona halbierte sich jedoch das Programm. Die "liebe Erde" ist am Ende immer stärker.

Text: Christoph Becher, Intendant des RSO Wien

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