Die virtuelle japanische Popsängerin Hatsune Miku

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Japan. 1945 bis heute

Japans schillernde Popwelt

Kunst und Kommerz werden in Japan nicht als sich ausschließende Gegenpole betrachtet. Das führt in der Popularmusik zu stilistischen Mischformen und Genre-sprengenden Musikerbiografien.

Fantastic Plastic Machine heißt ein Projekt des Musikers und DJs Tomoyuki Tanaka. Er gehört einer Retro-Musikströmung der späten 1990er Jahre an, die nach Shibuya benannt worden ist, einem damals hippen Bezirk Tokyos. Fantastic Plastic Machine könnte auch für Japans Popmusik insgesamt stehen – für die Produktion schillernder Popmärchen.

Die Wurzeln dieser bunten Musikwelt liegen in den 1920 er Jahren: Westliche Instrumente sind damals populär geworden, Stile wie Jazz und Blues wurden aufgegriffen und mit traditionellen japanischen Skalen verbunden. Dann kam die Zeit des Pazifik-Kriegs – alles Westliche wurde verbannt. Komponierende waren angehalten, zackige Märsche zu schreiben.

Umso stärker wurde nach dem Zweiten Weltkrieg der kulturelle Einfluss durch westliche Soldaten. In den 1960er Jahren hat man westliche Texte ins Japanische zu übertragen, klanglich orientierte man sich an Größen wie den Beatles.

Der Falco Japans

Doch langsam wurden auch eigene Akzente gesetzt, in der eigenen Sprache. Der Schauspieler und Sänger Kyu Sakamoto war der Falco Japans – er sorgte 1963 für den ersten japanischen Nummer-1-Hit in den USA.

In "Ue wo Muite Arukou" geht es um einen Mann, der in den Himmel blickt, damit seine Tränen nicht zu Boden fallen. Sakamoto soll dabei das Scheitern von Protesten gegen ein Abkommen mit den USA ("Vertrag über gegenseitige Kooperation und Sicherheit zwischen Japan und den Vereinigten Staaten") gemeint haben - es ist aber so vage formuliert, dass man darunter auch jede gescheiterte Liebe verstehen kann.

"Ue wo Muite Arukou" erschien im Westen unter dem Titel "Sukiyaki" – ein japanisches Hot-Pot-Gericht. Es geht im Song allerdings nicht ums Essen – man hat den kurzen Titel gewählt, damit ihn sich die westliche Zielgruppe leicht merken kann. Sänger Kyu Sakamoto kam 1985 bei einem Flugzeugunglück in Japan ums Leben.

Zwei Grundströmungen

Die Musikalische Richtung, die Künstler wie Kyu Sakamoto entwickelt haben, ist "kayokyoku", ein Vorläufer des heutigen J-Pop – im Gegensatz zu "enka", einer Richtung, die japanische Volksmusik in Richtung populären Schlager weiterdreht.

Einer der ersten, der mit einem ganz persönlichen Musikstil, eigener Ausdruckswelt großen Erfolg hatte in Japan war Yosui Inoue. Mit seinem Folk-Inspirierten Album "Kouri no Sekai" aus dem Jahr 1973 hielt er sich 35 Wochen lang an der Spitze der japanischen Charts.

Japanische Idole werden verehrt

Ein Phänomen, das die japanische Popkultur prägt, ist die der Idole ("aidoru"). Der Begriff geht weit über unseren Idol-Begriff hinaus. Idole sind Stars, die nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch durch ihre Auftritte in TV und Film eine Larger-than-life-Identität und eine fanatische Anhängerschaft kreieren.

Oft wird das Bild vom unschuldigen Mädchen von Nebenan kreiert, das Songs voller erotischer Anspielungen singt. Eine der frühen Idole war Hikaru Utada, selbst Tochter des "enka"-Stars Keiko Fujii. Ihr Debütalbum "First Love" aus dem Jahr 1999 ist bis heute eines der am besten verkauften Alben in Japan.

Spielwiese für Nerds

Die Popmusik Japans ist eine wunderbare Spielwiese für Musik-Nerds. Es gibt einen Reichtum an Musikerinnen und Musikern, über den nur Spezialisten je den Überblick haben werden. Ein weites Feld für Re-Issues und Raritätenhandel.

Die japanische Retro-Musik der späten 1990er Jahre wurde auch im Westen vermarktet. Einer der auch bei uns bekanntesten Gruppen war Pizzicato Five. Ihr Hit "Twiggy Twiggy" aus dem Jahr 1995 ist eine Reminiszenz an die Swinging Sixties.

Einer der Produzenten von Pizzicato Five war Haruomi Hosono. "Hosono House" hat er 1973 im Home-Recording-Verfahren aufgenommen, Japan war da technisch schon einiges vor Europa.

2019 hat er eine Neueinspielung dieses Klassikers herausgegeben – mit knochentrockenen, altersweisen Versionen holte er seine Songs in die Gegenwart.

Bedeutend für die Rezeption japanischer Musik im Westen war auch das Interesse für die Welt der Anime. Diese Zeichentrickfilme und die dazugehörige Comic-Welt waren für viele Jugendliche im Westen der Türöffner in eine andere Welt. Einer der Klassiker ist "Ghost in the Shell" mit der Musik von Kenji Kawai.

Gestaltung

  • Rainer Elstner

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