
MUSEUM DER VÖLKER/LISA NOGGLER-GÜRTLER
Das Objekt der Begierde
Museum der Völker Schwaz
Ein Museum der Völker in Schwaz in Tirol, das mag überraschen. Noch dazu ist es kein markantes Haus auf einem zentralen Platz, sondern in einem älteren Gebäude mit modernem Zubau am Stadtrand untergebracht. Genau das hat das Museumsteam jedoch herausgefordert, seit einigen Jahren ein ungewöhnliches, weit über Schwaz hinaus reichendes Programm zu gestalten.
9. September 2020, 15:30
Museum der Völker Schwaz
St. Martin 16, 6130 Schwaz
Objekte der Begierde: Hölzerne Zwillingsfiguren aus Westafrika
Gegründet wurde das Museum der Völker vom 1940 in Schwaz geborenen Fotografen, Journalisten und Buchautor Gert Chesi. Er reiste viele Jahrzehnte lang durch Westafrika und Südostasien und berichtete in seinen Fotos, Filmen und Büchern über wenig bekannte Regionen, Ethnien und Kulturen. Von seinen Reisen brachte er unzählige Figuren, Ritualobjekte, Alltagsgegenstände und Kunst mit, die er ab 1995 im Haus der Völker der Öffentlichkeit zeigte und zu Vorträgen lud.
2013 wurde das Museum der Völker in einem durch das Land Tirol und die Stadt Schwaz finanzierten Neubau eröffnet, 2016 schenkte Gert Chesi seine Sammlung mit fast 1000 Objekten und 600 Büchern der Stadt Schwaz mit der Auflage, dass sie auch in Zukunft für Besucher zugänglich sein sollen.
Lisa Noggler-Gürtler, die in Museen in Wien tätig war, kehrte daraufhin nach Schwaz zurück und übernahm die Leitung des Museums der Völker in Schwaz. Die zentrale Frage, die sie und ihr Team sich zu Beginn stellten, war: Was tut man mit einer Sammlung, wenn der Sammler nicht mehr im Mittelpunkt steht? Und wie macht man daraus ein modernes Publikums-Museum an einem peripheren Ort?
Kulturen verbindende Dialoge
Lisa Noggler-Gürtler: "Das hat mich motiviert zu überlegen, ob wir es uns trauen können, was sich momentan meines Wissens kein anderes ethnografisches Museum rundherum traut, außereuropäische und innereuropäische Objekte gemeinsam auszustellen. Dass man eben nicht immer diese Grenze zieht - das ist innereuropäisch und das ist alles was von Übersee kommt. Wir sind bald acht Milliarden Menschen auf der Erde und haben alle sehr ähnliche Fragen. Wir beantworten sie zum Teil sehr ähnlich und zum Teil auch sehr unterschiedlich."
So sind in den vergangenen drei Jahren Sonderausstellungen entstanden, die die Objekte des Sammlers Gert Chesi in den Dialog mit Tiroler Volkskunst und Alltagskultur bringen. Das ermöglicht es auch, in den Dialog mit den Besucherinnen und Besuchern zu treten. Sie können vom Bekannten ausgehend Bezüge zu anderen Ländern und Kulturen herstellen. Und weil das Museum klein ist, kann man auch direkt mit der Museumsleiterin und Kuratorin diskutieren.
Eine Sonderausstellung widmete sich zum Beispiel "wilden Gestalten", die es wohl in allen Kulturen gab und gibt, und die zur Auseinandersetzung mit Ängsten und ihrer Überwindung dienen.
Voodoo-Götter und Buddhas
Gleich im Eingangsbereich des Museums steht ein großes weißes Boot, auf dem zahlreiche bunte, fantasievoll gestaltete Figuren stehen. Es sind Voodoo-Götter, die Gert Chesi vor rund 60 Jahren beim Schnitzkünstler Agbagli Kossi und seinem Sohn Fofo Kossi aus Togo in Auftrag gegeben hatte. Interessant ist, dass die Hauptgöttin Mamy Wata, eine Wassergöttin, ganz in Weiß gehalten ist. Die Figuren sind im sogenannten Colon-Stil gehalten, der sich europäische Elemente aneignete.
Im nächsten Raum mit dem Titel "Himmel und Erde", der von Architekturstudierenden gestaltet wurde, trifft man auf zahlreiche Buddha-Statuen und rituelle Klangkörper. Ausgehend von der fernöstlichen Lehre des Siddharta Gautama lädt die Ausstellung ein, sich mit stets aktuellen Fragen des Mensch-Seins zu beschäftigen.
Im ersten Stock des Museums ist die neue Ausstellung "Erinnerungen an Äthiopien" zu sehen, die durch den Nachlass des Schwazer Gynäkologen Alfons Huber möglich wurde, der dem Museum geschenkt wurde. Alfons Huber war in den 1950er und 1960er Jahren zwölf Jahre lang in Addis Abeba, damals Kaiserreich Abessinien, und leitete unter Haile Selassie das Gardespital.
"Für uns ist das deswegen so interessant, weil wir hier eine Mikrogeschichte haben zu Alfons Huber, den hier alle gekannt haben, und die Makrogeschichte, was ist Äthiopien in der österreichischen Entwicklungshilfe", sagt Lisa Noggler. Die Ausstellung soll dazu anregen, sich über die Bilder, die wir über Afrika und Äthiopien im Kopf haben, Gedanken zu machen. Das reicht von Rastafarian über Safari bis Karlheinz Böhm und Hunger in Äthiopien.
Zwillingsfigur als Erinnerungsgefäß
Im zweiten Stock, im neuen Schaudepot, das im August 2020 zum 25-jährigen Jubiläum des Museums der Völker eröffnet wurde, stehen auf einem Regalbrett jene Objekte, die für Lisa Noggler das Symbol für die neue Ausrichtung des Museums sind: Es sind zwei etwa 25 Zentimeter große, aus Holz geschnitzte Zwillingsfiguren der Ewe aus Ghana und der Yoruba, der größten Ethnie in Westafrika. Sie werden als Venavi (bei den Ewe) und als Ibeji (bei den Yoruba) bezeichnet. Bei beiden Ethnien gibt es genetisch bedingt sehr häufig Zwillingsgeburten.
Lisa Noggler-Gürtler: "Das Spannende dahinter ist, dass sowohl bei den Ewe als auch bei den Yoruba die Vorstellung existiert, dass Zwillinge gemeinsam eine Seele besitzen. Das bedeutet, wenn ein Kind stirbt, und die Kindersterblichkeit ist immer noch hoch, hat das zweite Kind ein Problem zu überleben, weil sich die Seele entscheiden kann, bleibt sie beim lebendigen oder geht sie mit dem toten Kind mit. Damit die Seele bleibt, schnitzt man eine Vertreterfigur für diesen verstorbenen Zwilling, damit die Seele weiß, ich kann bleiben. Und diese Vertreterfigur bleibt so lange im Haushalt stehen, bis sich der Letzte nicht mehr erinnert, dass es diesen Zwilling gab, und das ist meistens beim Tod der Mutter."
Solche Zwillingsfiguren, von denen es zahlreiche im Museum gibt, wurden in der Ausstellung "Unvergessen machen" einer Reihe von tiroler "Sterbbildln" gegenübergestellt. Das sind kleine Erinnerungsbilletts, die die Trauergäste bei einem Begräbnis erhielten, damit sie sich lange an die verstorbene Person erinnern. Diese Tradition sei heute wiederaufgelebt, beobachtet Lisa Noggler-Gürtler.
Gestaltung
- Sonja Bettel