Mann sitzt auf Stufen und liest Zeitung, Ausschnitt Buchumschlag

SCHÖFFLING & CO

Buch von Justin Steinfeld

"Ein Mann liest Zeitung"

Zu den eindrucksvollsten Zeugnissen der Exilliteratur zählt Justin Steinfelds Roman "Ein Mann liest Zeitung". Die Lektüre ist der Ausgangspunkt, um Propaganda, um mediale Wahrheit mit der eigenen Erfahrung und Einschätzung kollidieren zu lassen. Soeben ist dieser politische Rundumblick der Dreißigerjahre zum zweiten Mal wiederentdeckt worden.

Zuerst einmal hat der deutsche Schriftsteller das Manuskript 1970 hinterlassen, als er 88-jährig im nördlich von London gelegenen Baldock starb. Dort hatte er seit 1939 gelebt, nachdem er 1933 von Hamburg nach Prag und nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei nach England geflohen war.

Steinfeld stammte aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie, begann sich in den 1920er Jahren journalistisch zu betätigen, dockte eine Zeit lang bei den Kommunisten an und machte sich einen Namen als Autor von politischen Theaterrevuen.

Neffe brachte zwei Aktenordner

1933 wurde er verhaftet, es gelang ihm die Flucht über die Grenze, wo er zuerst in Prag, später dann in England für Exilzeitungen schrieb und finanziell gerade einmal so über die Runden kam. Er wäre als einer, der sich nach 1945 geweigert hatte, nach Deutschland zurückzukehren, ein Vergessener geblieben, hätte nicht 14 Jahre nach seinem Tod ein Neffe zwei Aktenordner dem Neuen Malik Verlag angeboten, der das Konvolut 1984 unter dem Titel "Ein Mann liest Zeitung" veröffentlichte.

Der Roman erhielt einiges an medialer Aufmerksamkeit, hielt sich aber nicht im Kanon der Exilliteratur. Nun ist er bei Schöffling neu erschienen, wobei ich sagen muss: mit der Gattungsbezeichnung Roman wird man diesem Buch nicht gerecht, denn es ist nichts Fiktives in ihm.

Mann liest Zeitung, Buchumschlag

SCHÖFFLING & CO

Reflexionen über Schlagzeilen

Die Hauptfigur Leonhard Glanz, ein aus Hamburg geflohener Kaufmann, sitzt im Jahr 1936 in einem Prager Kaffeehaus und liest die dort aufliegenden Zeitungen. Das ist die ganze Story, deren einzige Fiktion darin besteht, dass der Autor nicht Ich sagt, sondern sich ein Alter Ego ausdenkt. Die raffinierte Dramaturgie des Textes besteht nun darin, dass jede Schlagzeile, jede Meldung, jeder Artikel, jeder Kommentar, den Leonhard Glanz liest, diesen darüber reflektieren lässt.

Die Lektüre ist der Ausgangspunkt, um Propaganda, um mediale Wahrheit mit der eigenen Erfahrung und Einschätzung kollidieren zu lassen. Und so entspannt sich ein politischer Rundumblick der dreißiger Jahre, der die Endphase der Weimarer Republik, den Aufstieg der Nationalsozialisten, den Spanischen Bürgerkrieg, Mussolinis Nordafrikafeldzüge, die Arisierungen, den eigenen Verlust des Handelshauses, den Verrat durch vermeintliche Freunde und vieles mehr beinhaltet.

Besiegter und Sieger zugleich

Leonhard Glanz, der Mann, der Zeitung liest, dem als einzigen Besitz eine Überfülle an Zeit geblieben ist, konstruiert sich als Subjekt der Geschichte, als anonymes Mikroteilchen in einem Strom, den er nicht aufhalten, den er nicht verändern kann - in dem er sich dennoch als Widerständiges Element begreift, eben weil er entkommen ist, weil er überlebt, weil er sich die Freiheit des Denkens bewahrt hat.

Er hat das System nicht gestürzt, aber er ist von ihm auch nicht zermahlen worden, was nach der Logik dieses System eigentlich geschehen hätte sollen. Er ist Besiegter und Sieger zugleich, als solcher hat sich auch Justin Steinfeld empfunden. Er hat Zeugnis abgelegt und dieses Zeugnis ist an die Öffentlichkeit gelangt, wenn auch erst nach seinem Tod.

Service

Justin Steinfeld, "Ein Mann liest Zeitung", Schöffling & Co.

Gestaltung

  • Peter Zimmermann

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