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Nachtgedanken

"Insomnia" von Ivo Andrić

Sein ganzes Erwachsenenleben lang hat sich der jugoslawische Literaturnobelpreisträger und Diplomat Ivo Andric, wenn er nicht schlafen konnte, Notizen gemacht - Alltagsbeobachtungen, Reiseeindrücke, Charakterbilder, lakonische Kürzestgeschichten. Der Andric-Biograf Michael Martens hat einige davon im Band "Insomnia" zusammengestellt.

Ivo Andrić hätte einer Veröffentlichung seiner posthum publizierten Nachtgedanken mit Sicherheit nicht zugestimmt, zumindest nicht zu Lebzeiten, betont Herausgeber Michael Martens in seinem Nachwort. Der Nobelpreisträger war ein Gentleman der alten Schule, nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, die Öffentlichkeit mit persönlichen Geständnissen zu inkommodieren. "Ich bin in einem Milieu geboren", erklärte Andrić an anderer Stellle, "das in jedem öffentlichen Auftreten etwas Unstatthaftes und Peinliches sah."

Die Schwierigkeit besteht nicht darin, wie man einschläft, sondern wie man nicht aufwacht ...

In seinen Notizbüchern lernen wir den Autor der "Bosnischen Trilogie" von einer anderen, persönlicheren Seite kennen. In glasklarer, eleganter Prosa, die Michael Martens in ein ebensolches Deutsch übersetzt hat, lotet der Romancier seine Verzweiflungen und Abgründigkeiten, seine Melancholien und quälenden Selbstzweifel aus. Da und dort brilliert Andrić in diesen nächtlichen Geständnissen aber auch mit ironisch funkelnden Sentenzen und geistvollen Paradoxien. Das Handwerk des Schreibens beispielsweise definiert er so:

Aus dem, was niemals war und niemals sein wird, machen geschickte Schriftsteller die schönsten Geschichten über das, was ist.

Zu seinen Lebzeiten war Ivo Andrić, der bekennende Multi-Ethniker, der wahrscheinlich prominenteste Repräsentant der titoistischen Hochkultur. Ein hochgebildeter, immer etwas distanziert wirkender Herr. In seinen Nocturnes lernen wir den Autor der "Brücke über die Drina" nun auch in seinen existenziellen Nöten kennen. So ungeschützt schreibt Andrić nirgends sonst über sich. Nach dem Tod seiner Frau Milica, die er in Briefen und Notizen gesiezt hat, notiert er 1968:

"Ich bin ohne Sie zurückgeblieben wie ohne Atem und Tageslicht. Von dem Tisch, an dem ich frühstücke, scheint mir nur die Hälfte zu existieren, jene, die für mich eingedeckt ist. Auf der anderen Seite, wo Sie sitzen sollten, beginnen der Abgrund und die Finsternis des Lebens ohne Sie. Neben diesem Abgrund muss ich jetzt leben und alles mit ihm teilen."

Verzicht auf Jahreszahlen

Herausgeber Michael Martens hat in der Regel darauf verzichtet, wie auch die Herausgeber des serbischen Originals, Andrićs Nachtnotate mit Jahreszahlen oder Hinweisen auf den jeweiligen Zeitpunkt ihres Entstehens zu versehen. Wie jede Literatur, die diesen Namen verdient, sollen auch die "Insomnia"-Texte aus sich heraus wirken, meint Martens. Und so muss man sich die Entstehungszeit der Texte von ihrem Inhalt her herbeikombinieren. Ist es der dreißig- oder vierzigjährige Ivo Andrić, der da schreibt, oder der achtzigjährige? Bei manchen Einträgen kann es diesbezüglich keinen Zweifel geben, etwa bei dieser Prosa-Improvisation über das Thema "Altwerden":

Jammern über das Alter (...) ist eine Schwäche vieler ansonsten würdiger Menschen

"Übertriebenes Jammern über das Alter und seine zahlreichen Unannehmlichkeiten und Beschwernisse, das ist eine Schwäche vieler ansonsten würdiger Menschen. Ein Mangel an Philosophie! Erstens bedenken sie nicht, dass das wirklich niemanden interessiert. Junge Menschen verstehen sie nicht, und ihren Altersgenossen ist ein solches Gejammer abstoßend, denn die Last des Alterns und des Alters kennen sie nur allzu gut. Zweitens verlieren sie aus dem Blick, dass das Alter nicht irgendein abgesonderter und besonderer Zustand ist, sondern ein Bestandteil unseres Lebens, logisch verbunden mit der Jugend, den reifen Jahren und der Ruhe nach dem Tod. Das sind Menschen, die alles vernehmen und viel lernen, nur eines nicht, und das ist das Wichtigste: wie man möglichst würdig altert und möglichst anständig stirbt."

Haltung bewahren, auch angesichts der Zumutungen und Widrigkeiten der menschlichen Existenz

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Haltung bewahren, auch angesichts der Zumutungen und Widrigkeiten der menschlichen Existenz - das war eine der Lebensmaximen des alteuropäischen Humanisten Ivo Andrić. Nachts, wenn man schlaflos zwischen Arbeits- und Schlafzimmer herumwandert, darf man sich freilich auch als Großromancier bisweilen ein bisschen gehen lassen; da darf man selbstkritisch hinter die Fassaden bürgerlicher Gefasstheit blicken, die man für gewöhnlich an den Tag legt, zumal, wenn es um das immer wieder grausame Skandalon des Todes geht:

"Der Tod ist ein Donner ..."

"Der Tod ist ein Donner. Du weißt, dass es ihn gibt, hast darüber gelesen, oft auch nachgedacht, unbestimmt, ohne Ende und Schlussfolgerung. Manchmal erwähnst du ihn auch im Gespräch oder beim Schreiben, stets weise und ruhig, als wüsstest du alles darüber. Und wenn es dann passiert, dass er in deiner nächsten Umgebung einschlägt und unerwartet jemanden trifft, den du liebst und mit dessen Existenz du dein schönstes Wohlgefallen verbindest, erst dann merkst du, dass du nicht weißt und nie wirklich wusstest, was der Tod ist, und dass du auswendig geredet und geschrieben hast, oberflächlich und leer."

Als Verfasser epochaler Historienromane wie "Die Brücke über die Drina" und "Wesire und Konsuln" gilt Ivo Andrić Kennerinnen und Kennern schon seit langem als Autor von weltliterarischem Rang. In seinen "Nachtgedanken“ "ist der epische Titan nun auch von einer privateren, intimeren und verletzlicheren Seite zu entdecken.

Service

Ivo Andrić, "Insomnia - Nachtgedanken", aus dem Serbischen übersetzt und herausgegeben von Michael Martens, Zsolnay-Verlag, 192 Seiten

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