Brasilianische Autorin

Clarice Lispector zum 100. Geburtstag

Am 10. Dezember 1920 wurde die Schriftstellerin Clarice Lispector geboren. Hierzulande eher unbekannt, galt sie in ihrer Heimat Brasilien schon zu Lebzeiten als literarische Ikone. Zum Jubiläum ist nun der zweite Band ihrer gesammelten Erzählungen bei Penguin erschienen. "Aber es wird regnen" heißt das Buch, das heute Abend in einer Online-Veranstaltung im Münchner Literaturhaus präsentiert wird.

Kaum konnte sie lesen, schrieb Clarice Lispector auch schon ihre ersten Geschichten, wie sie rückblickend erzählte. Es war Lispectors einziges Fernsehinterview, nur wenige Monate vor dem Tod im Jahr 1977. In der ihr eigenen, faszinierenden Unnahbarkeit äußerte sich die damals 56-Jährige über das Leben und das Schreiben, das sie bis zuletzt nicht als Profession betrachten wollte.

Ich schreibe nur, wenn ich Lust dazu habe

"Ich bin keine professionelle Schriftstellerin, ich schreibe nur, wenn ich Lust dazu habe. Professionelle Schriftsteller haben immer Verpflichtungen - entweder dem Schreiben oder jemand anderem gegenüber. Ich hingegen bin und bleibe Amateurin, um mir meine Freiheit zu bewahren."

"Eine der radikalsten Denkerinnen des 20. Jh."

Kein Beruf, und doch eine Berufung. Mit 19 Jahren veröffentlichte Lispector, damals Jusstudentin, ihre erste Kurzgeschichte. Jahrelang hielt sie sich mit Texten für Zeitungen und Zeitschriften finanziell über Wasser, bevor sie mit Romanen, Kinderbüchern und vor allem mit ihren Erzählungen den literarischen Durchbruch schafft, erzählt der Herausgeber Benjamin Moser: "Sie schrieb über Make-up und Kleidung, gab Tipps zur richtigen Verwendung von Parfum oder Mascara. Und zugleich war sie wohl eine der radikalsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts."

Sie ist grausam und brutal zu ihren Figuren, und beschreibt sie trotzdem sehr liebevoll und in einer wunderschönen Sprache."

Auf der Flucht vor antisemitischer Gewalt kam Clarice Lispector als Zweijährige mit ihren ukrainisch-jüdischen Eltern nach Brasilien und wuchs in Recife im armen Nordosten auf. Als Diplomatengattin bewegte sie sich Jahre später selbstverständlich auf dem internationalen Parkett der höheren Gesellschaft, während sie in ihren Geschichten vor allem die Niederungen des Alltags in den Fokus nahm, sagt Moser: "Sie sah aus wie eine Hausfrau aus der oberen Mittelschicht, stets gut gekleidet, frisiert und geschminkt. Und in ihren Texten reißt sie sich das alles herunter wie eine Maske, und zeigt, wie es wirklich ist. Sie ist grausam und brutal zu ihren Figuren, und beschreibt sie trotzdem sehr liebevoll und in einer wunderschönen Sprache."

Scheinbar achtlos hingeworfene Sätzen

Im Zentrum stehen vor allem Fraiem, die jäh aus der Bahn geworfen, vom Schicksal zerrissen oder aufgerüttelt wurden. Erst bei näherer Betrachtung tut sich die komplexe Welt zwischen den scheinbar achtlos hingeworfenen Sätzen dieser Alltagsbeobachtungen auf, die sich dem korrekten Portugiesisch gern widersetzen. Sagt Benjamin Moser und der Übersetzer Luis Ruby ergänzt. "Für Clarice Lispectors Erzählungen brauche ich doppelt so lange wie für Anderes. Denn es steckt sehr viel drinnen, was man erst mal entdecken muss; und dieser Ausgleich, alles unterzubringen, aber es nicht zu überfrachten oder nicht unbeholfen zu werden, das macht sehr viel Arbeit."

Schon für den ersten Band "Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau" wurde Ruby für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 nominiert. Und auch im zweiten Band "Aber es wird regnen" gelingt es ihm, die tragische Tiefe hinter Clarice Lispectors bestechend einfachen Kurztexten zu vermitteln. Ein literarisches Universum, das unbedingt entdeckt werden will.

Service

Clarice Lispector, Sämtliche Erzählungen II, herausgegeben von Benjamin Moser, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, Penguin Verlag 2020

Benjamin Moser, "Clarice Lispector - Eine Biographie", aus dem Englischen von Bernd Rullkötter, Schöffling & Co.

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