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Antanas Skemas "Apokalyptische Variationen"

Gut sechzig Jahre nach seinem Tod gibt es nun zum ersten Mal Antanas Skemas Prosatexte auf Deutsch zu lesen. Ein Genuss und ein Abenteuer. Sie machen auf eindrückliche Weise deutlich, warum und wie dieser Autor der litauischen Literatur entscheidende Impulse gab.

Vor drei Jahren ist "Das weiße Leintuch" erschienen, der einzige Roman des 1910 In Lodz geborenen und 1961 in der Nähe von Chicago verstorbenen litauischen Schriftstellers. Vom New Yorker Exil ist darin die Rede, von der Liebe und von Verzweiflung. Antanas Skema, der vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Vilnius als Schauspieler und Regisseur arbeitete, floh 1944, als die Sowjetischen Truppen Litauen besetzten, nach Deutschland. Einige Jahre verbrachte er als so genannte "Displaced Person" in Lagern, ehe er 1947 in die USA ausreisen durfte. Dort hielt er sich unter anderem als Liftboy über Wasser, schrieb Kurzgeschichten und eben seinen Roman, der von genau jenen Erfahrungen handelt, die Skema, mittellos und entwurzelt, in New York gemacht hat.

In Amerika habe ich Amerika zu helfen versucht

Es gibt ein Foto, das der litauische Avantgardefilmer Jonas Mekkas, der in den USA der 1950er Jahren zu einer Schlüsselfigur des neuen Kinos wurde, aufgenommen hat. Es zeigt einen Mann im Mantel auf einem Balken sitzend, die Beine übereinandergeschlagen. Auf seinem Kopf ein Hut, in der Hand, die oberhalb des Knies liegt, eine Zigarette. Die Sonne scheint, die Hände sind überbelichtet wie auch das Gesicht des Mannes. Er wirkt wie ein weiß geschminkter Clown in zu großen Kleidern, jung und alt zugleich, lässig und melancholisch, ein bisschen Dandy, ein bisschen Sandler. Das Foto zeigt den vierzigjährigen Antanas Skema. Zu diesem Zeitpunkt lebt der litauische Schriftsteller, Dramaturg und Regisseur seit zwei Jahren in New York.

Autobiografische Skizze zum 40er

"In Amerika habe ich Amerika zu helfen versucht, indem ich in Fabriken arbeitete, so wie viele. Gut, dass ich mich in meiner Jugend für den Sport interessiert habe. Schlecht, dass ich mir die Worte eines bedeutenden Vilniuser Hellsehers nicht zu Herzen genommen habe, Englisch zu lernen. Ich freue mich, dass mir für meinen in der Fabrik zerquetschten Finger eine Kompensation gezahlt wurde. Von dem Geld habe ich mir ein Kurzwellenradio gekauft, einen Phonographen mit den Werken meiner Lieblingskomponisten sowie einige wertvolle Kunstbände …"

… schreibt Skema in einer autobiografischen Skizze anlässlich seines vierzigsten Geburtstags. Da weiß er nicht, dass er bereits den überwiegenden Teil seines Lebens hinter sich hat: Zehn Jahre später wird er auf der Rückfahrt von einer Feier mit Freunden und Kollegen am Ufer des Michigansees tödlich verunglücken. Viele wollten das nicht glauben, schreibt die Übersetzerin seiner Werke, Claudia Sinnig in ihrem Nachwort zu "Apokalyptische Variationen". Zu absurd erschien dieser Tod, zu furchtbar der Abbruch von Skemas Leben und Werk.

Kontinuität eines zerrissenen Lebens

Gut sechzig Jahre nach seinem Tod gibt es nun zum ersten Mal Antanas Skemas Prosatexte auf Deutsch zu lesen. Ein Genuss und ein Abenteuer. Sie machen auf eindrückliche Weise deutlich, warum und wie dieser Autor der litauischen Literatur entscheidende Impulse gab. Modern und expressionistisch überwindet er einen konservativen Realismus, verarbeitet Elemente aus der Bildenden Kunst und der Musik. All das in kleinen Erzählungen und Skizzen, manche nicht länger als drei oder vier Seiten, chronologisch angeordnet.

Entstanden sind die Texte in der Zeit zwischen 1929 und 1960. Mit dem ausführlichen Nachwort der Übersetzerin ermöglichen sie, einen modernen Autor kennenzulernen, der seinen Stil kontinuierlich entwickelt hat und bestimmte Motive in immer wieder neuen Zusammenhängen variiert. Und sie zeigen auch die Kontinuität eines zerrissenen Lebens. Skema, der zeitlebens ein Außenseiter war, von der Weltgeschichte aus seiner Heimat vertrieben und auf einen fremden Kontinent geweht, verarbeitet Erfahrungen und Ängste, ohne dezidiert autobiografisch zu schreiben.

"Das weiße Leintuch"

Für den deutschsprachigen Raum hat der kleine Berliner Guggolz Verlag sein Werk entdeckt. Vor drei Jahren ist dort schon Skemas einziger Roman, "Das weiße Leintuch" erschienen. Skema schrieb Litauisch, gleichwohl der im noch zaristischen Lodz geborene Autor eine polnischsprachige Mutter und einen russischsprachigen Vater hatte. In Kaunas, das in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts florierte, ging er zur Schule, in Vilnius später ans Theater.

"Vilnius. Die Gediminasstraße. Ein großer verwaister Platz (das rege Markttreiben von den Besatzungen hinweggefegt) und gegenüber - ein Palast. Hell gestrichen, harmonisch komponiert. Und still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer. Vor nicht allzu langer Zeit, da hatte er hier einen Schrei gehört. Die erste Etage. Ein riesiges Fenster. Es ist hell. Ein glänzender Schreibtisch. Hinter dem Tisch sitzt ein Staatsanwalt von brauner Gestalt. Vor dem Tisch steht ein junger Mann mit zerzaustem Haar. Sein Gesicht ist blass, die Muskeln angespannt. Auf der Glasplatte des Tisches liegen litauische Untergrundzeitungen, ein Aschenbecher, eine Pistole. An der Wand gegenüber hängt ein Kalender. 16. Februar 1944."

Buchumschlag

GUGGOLZ VERLAG

Eine dramatische Biografie

Es ist eine dramatische Biografie von der in den einzelnen Prosastücken erzählt wird. Ihre Schauplätze sind Lebensstationen des Autors. Kaunas und Vilnius, wo er die Besatzung durch fremde Gewaltherrscher, Russen und Deutsche, erlebte. Aber auch Deutschland, wohin er zu Kriegsende floh und in einem DP-Camp lebte. Dann das Exil in den USA, wo sich Skema als Fabrikarbeiter und Liftboy durchschlug. Auch innere Zustände, traumatische Kindheitserlebnisse, psychische Krisen werden fiktionalisiert und aus unterschiedlichen Perspektiven wiedergegeben. Mal lakonisch, schlicht, präzise. Szenisch oder surreal. Dann wieder lautmalerisch, in emotionalen Stimmungsbildern oder als assoziativer Bewusstseinsstrom.

"Mein Gesang wird geboren, weil er sein musste. Meine Schulter schmerzt, und der Schmerz pocht in den Schläfen. Ich strecke die Zunge heraus, die Tropfen von der Dornenkrone fallen auf sie. Blut schmeckt besser als Honig, so hat es Salvador Dali gemalt. Hammerschläge wie die explodierende Bomben in den Ruinen von Berlin, und schlanke Nägel saugen sich in mein Fleisch. Ich sehe Soldatenhände, sie sind echt und geädert. Der Himmel ist grünblau, der Staub von meinem Kreuz steigt zu ihm auf. Ich bin im Holz und ich bin über der Erde, ich bin ein altes Totem und eine neue Skulptur, ein aus Fleisch geflochtenes Seil, mit mir und durch mich kann man in das Paradies hinübergehen, ich bin das Schwert des Koran und die Waage des Osiris. Wir haben nur den Gesang, und er ist ewig wie der Tod."

Aufrichtig und eigenwillig

Die Gesänge dieses Autors sind farbig, mitreißend und klangvoll. Gezielt eingesetzte Monotonie wechselt ab mit pulsierendem Rhythmus. Sinnlich ist diese Sprache und aufrichtig, eigenwillig. Auch wenn man meint, mitunter Camus, Kafka, Baudelaire oder gar Allen Ginsberg zu hören. Solch unterschiedliche Einflüsse zu etwas Eigenem zu machen, das ist Skéma: selbst feine Zwischentöne und die Musikalität seiner Sprache gehen in der Übersetzung nicht verloren. Die "Apokalyptischen Variationen" handeln von inneren und äußeren Zuständen. Die Protagonisten schwitzen, lachen, sind grausam, überheblich, verzweifelt. Menschlich eben.

"Ideen fliegen durch die Luft, und ich denke, nein, ich bin mir sicher, dass nicht du sie dir aussuchst, sondern dass sie sich in dich hineinbohren wie die Pfeile in den heiligen Sebastian, und dir nichts anders übrig bleibt, als auf die Pfeile mit deinen papiernen Gesichtern zu reagieren. Eines von vielen Mitteln, Menschlichkeit zu beweisen."

Service

Antanas Skema, "Apokalyptische Variationen", aus dem Litauischen von Claudia Sinnig, Guggolz Verlag

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