Reproduktion eines Gemäldes

Renate Amon

Ö1 Kunstgeschichten

Beim Verlassen des Weges den eigenen Pfad finden

Blau steht für die Seele, den See, das Wasser, die Transzendenz, das Ewige. Rot steht für das Blut, den Körper, das Verletzliche. Dazwischen und darüber webt die Schrift, die als Handschrift einen fortlaufenden Faden bildet, an der Erzählung von unserem vergänglichen menschlichen Leben. Die Autorin Christl Greller lässt sich für ihre Kunstgeschichte über den Tod und das Leben von einem Bild der Waldviertler Künstlerin Renate Amon inspirieren. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Liebe Renate Amon, danke für Deine Gastfreundschaft bei meinem Besuch in Deinem Atelier. In Deine Ölbilder echtes Holz einzuarbeiten bringt reizvolle Kombinationen mit tiefen Aussagen hervor.

Am meisten angesprochen hat mich das Bild, in das Du zusätzlich Schrift eingebaut hast. Die Schrift verläuft über die Farbe Blau – ist es ein See? Ich möchte dein Bild in ein Wortbild übersetzen:

verschriftlichung

und unter brüchigem schutz verborgen
der seelensee.
wie kann etwas, das so zart,
so tief sein?

saugende seelenstrudel,
einziehend bis in die schlünde…
schreib dich ein in seine tiefe
mit worten der hingebung, schwer
bei aller zartheit.

dann wasche das blut aus deiner feder.

Reproduktion eines Gemäldes

Renate Amon

Brauche ich eine Erzählerin? Eine Figur, die mich darstellt in einem erdachten Text? Vielleicht. Es mag eine Hilfe sein in manchen Fällen. Ich versuche es einmal mit mir selbst.

Es ist wie bei diesen Wanderungen in den Bergen in den hohen, geschnürten Schuhen mit den weichen Lederwülsten rund um die Knöchel. Der Schotter rollt unterm Schritt, der Staub brennt in den Augen. Dann kommst du um eine Biegung und siehst ihn vor dir liegen: den See, weit und hellhimmelblau.

Die Seele stelle ich mir wie einen See vor. Ein scheinbarer Weg zu ihm hin mag sichtbar sein, doch schon schieben sich wieder raue Kuppen dazwischen, wurzelige Stolpersteilhänge. Es gibt kein Näherkommen.

Vielleicht musst du doch den allgemeinen Weg verlassen, dir im Unwegsamen den eigenen Pfad suchen, kaum ausgetreten, aber persönlich. Und plötzlich die Öffnung: Der See gewährt Zugang. Das Herz weitet sich bei der Weite seines Anblicks.

Dieses leichte Blau des Himmels symbolisiert für mich Schwerelosigkeit, Freiheit. Und mein Seelensee hat den Himmel ja in sich: Er spiegelt sich in ihm.

O dieser zärtliche Himmel! Er lässt mich direkt in sein Herz sehen. Das mythische Blau, Symbol der Sehnsucht nach Schönheit - und auch nach allem, was man geliebt hat, was einem genommen wurde, was man verloren hat. Sein Spiegel reflektiert aber auch die Wolken, seien es fedrige Zauberschiffe oder geballte Fäuste.

Dem Wasser wohnt ein Zauber inne. Es ist ein Seelenfänger, Seelenschmeichler, Heiler. So zart ist die Seele, so verletzlich, dass sie immer einen Heiler braucht. Wer hätte das nicht schon an sich erfahren? Streicheln ist so eine Heilung, einfaches warmes liebegetränktes Streicheln. Und das macht auch der Seelensee, sein Wasser, das dich liebkost. Selbst schon, wenn du es nur ansiehst.

Seelenheilende Hände. Von jemandem, den du liebst und der dich liebt. Aber genau diese Hände sind auch die verletzendsten, können deiner Seele nicht gutzumachende Wunden zufügen.

Auf der Welt gibt es so vieles, das mich zutiefst betrifft und mir schwer auf der Seele liegt. Das mich be-rührt, oft auch zu Tränen rührt.

Gefühlssee. Seelensee. Tränensee. Aber dieser See ist nicht offen, immer zieht er seine Oberfläche zwischen dich und das, was in ihm verborgen liegt. In den Tiefen. Es ist keine Idylle. Tanzende Wasserpflanzen, die dich umschlingen, nicht mehr loslassen, als würden sie lustvoll abwarten; zusehen, wie aus dir die Luftblasen gluckern, aufsteigen, leiser und leiser werden, bis keine mehr da sind.

Der Seelensee kann sehr tief sein: Träume, Pläne, Wünsche treiben darin, dort wo das Wasser noch klar ist zwischen den Makrophyten. Sie verfangen sich weiter unten im Trüben, mischen sich mit Versagen, Enttäuschungen, Fehlern.

Mit meinen Armen teile ich luftlos das Wasser, das immer schwerer zu werden scheint, immer finsterer und dickflüssiger. Seelenstrudel saugen mich hinab.
Am Grunde dieses Sees, im Dunkel, die Dämonen, die Albe. Die Ungeheuer, die man gar nicht aufstören will, die sich aber ungefragt zeigen wie die Gruselfiguren in der Geisterbahn. Man kann sich gar nicht von ihren Schrecken befreien. Von Dunkel zu Dunkel tauchen sie in uns auf als Träume - unscharf wabernd oder glasklar:

Christl Greller

privat

Christl Greller wurde 1940 in Wien geboren, wo sie auch lebt. Lyrik und Prosa verbinden sich zur umfangreichen Werkliste einer mehrfach ausgezeichneten Autorin, die zu den stillen Größen vor allem der deutschsprachigen Lyrikszene zählt. Stets zu innerer Veränderung bereit, zeigt diese Autorin das Befremdliche im scheinbar Geläufigen, den Wahnsinn im Durchschnittsleben.

Traum 1

Ich renne mit dem Kinderwagen zu einer entfernt stehenden Mutterfigur. Kein Mensch sonst zu sehen. Der Weg ist steinig, mühsam ist das Fortkommen mit dem Gefährt. Kein Geräusch außer dem Knirschen von Steinchen und Sand. Meine Augen sind auf die Frau vor mir fixiert. Mir scheint, dass sie immer gleich weit wegbleibt. Das ist aber eine Täuschung, plötzlich stehe ich vor ihrem prüfenden Blick. Ich schiebe ihr den Kinderwagen zu. Er ist leer.

Traum 2

Ich befinde mich in einem sehr großen, großteils leeren Raum. Der Boden ist mit Parkett im Fischgrät-Muster belegt, glatt und matt glänzend. Aus der linken Ecke kommt „er“ hervor: ein Männerkopf mit schulterlangem, gewellten Haar. Es wird schon grau, das Gesicht ist auch nicht mehr jung, aber sehr lebhaft. Dieser Kopf liegt unmittelbar auf einem Holzgitter mit Rollen, wie man es für schwere Blumentöpfe verwendet. Unter den dichten, unordentlichen Haaren kommen die Arme hervor, mit denen der Kopf sein Holzgitter antreibt und schnell durch den Raum bewegt. Ich bin erschrocken, jedoch der Kopf beachtet mich nicht, rollt nur umher und scheint herumzuschreien. Ich höre aber nichts, habe dennoch das bedrohliche Gefühl, dass es sich um meine Literatur handelt.

Traum 3

Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof, auf dem Rücken einen altmodischen Wanderrucksack. Darin trage ich zwei Kinder, sie sind schwer. Im Rhythmus meiner hastigen Schritte schlägt der Rucksack auf meinen Rücken, durch das Gewicht immer tiefer, schließlich in die Kniekehlen, was sehr viel Kraft kostet. Es ist Nacht und Vollmond. Die beleuchtete Bahnhofsuhr zeigt, dass ich (wieder) zu spät dran bin. Es ist schon Voll-Uhr.

Magda Kropiunig

Evelyn Hronek

Magda Kropiunig, Klagenfurterin des Jahrgangs 1977, studierte an der staatlichen Schauspielakademie in Ljubljana. Sie spielte unter anderem am Stadttheater Klagenfurt, am Slowenischen Nationaltheater oder am Wiener Rabenhoftheater, und sie ist als Radiomoderatorin und als Sprecherin für TV-Dokumentationen bekannt.

Träume können eine fürchterliche Last darstellen. Manche nimmt man mit in den Tag, sie lassen sich nicht abbeuteln, sitzen wie Teufel im Genick. Als Hilfe wird empfohlen, die Träume aufzuschreiben, sie zu verschriftlichen und damit zu bannen. Das Benennen, das Verschriftlichen macht kompakt, was sonst bedrohlich im Nebel des Vagen bleibt. Eine Bannschrift, Bannbulle gegen die dunklen Ausgeburten unserer selbst.

Ja, ich verschriftliche. Der hässliche Schrei des Pfaus ist mir verzweifelte, hinaus geschrieene Sehnsucht.

Diese Schrift - unsere Schreibschrift, denn anderer Sprachen Schriften sind anders - kann über weite Strecken in einem ununterbrochenen Strich gezogen werden. Ein langer Faden, mit dem man seinen Text stricken kann. Sieh ihn dir an: gekräuselt, verschlungen wie von einer aufgetrennten Strickerei. Finde ich durch diesen Faden den Sinn meines Lebens? Oder ist er zumindest der Ariadne-Faden durch sein Labyrinth? Auch das Leben ist kein gerader Strich. Mehr als verschlungen sind seine Wege.

Man weiß von Kriegsdeserteuren, dass sie sich vor Angst versteckt, verkrochen haben, mit der Welt keinerlei Kontakt hatten. Sie wussten gar nicht, dass der Krieg schon vorbei war. Erst im Tod hat es auch der Kriegsveteran mit dem auffallenden Namen Saturn zur Verschriftlichung seiner Lebensgeschichte gebracht:

Er war um 1936 in den USA geboren worden und kam von dort nach Berlin, wo er im Zoo zu Hause war. In der Bombennacht vom 23. November 1943 brach er in Panik von dort aus und verkroch sich vor Angst. Wie so mancher Mensch wusste er gar nicht, dass der Krieg geendet hatte. Erst 3 Jahre später entdeckte die russische Besatzung zufällig den verschreckten Kriegsflüchtling und brachte ihn nach Moskau, wo er noch 74 Jahre lebte. Nun ist „Saturn“, ein Alligator von 3,5m Länge, im Alter von etwa 84 Jahre gestorben. Moskau trauert.

Das Schicksal dieses Lebewesens geht mir nahe. Es besteht kein Zweifel, dass da Gefühl im Spiel war. Angstgefühl kann natürlich als urtümlich abgetan werden. Aber ein Gefühl, wie auch meine Seele es kennt, ist es.

Ich bin froh, dass ich die Geschichte von Saturn lesen konnte. Weil die Menschen sich auf Zeichen geeinigt haben, mittels derer man Inhalte, Ereignisse, Gefühle beschreiben und für andere wiedererkennbar festhalten kann.

Herzblut. Man schreibt immer mit Herzblut. Es ist in meinem himmelhellblauen Seelensee verborgen, unter der Oberfläche. Bei Sonnenuntergang kommt es zum Vorschein, wenn das Abendrot über die Seeoberfläche glänzt und es still ist. Ganz still.

Auch im Paralleluniversums eines Spitals gibt es diese Stille. Die Notfallstation: viele Menschen, aber Stille, unterbrochen nur vom Wimmern eines unauffälligen Patienten in der Mitte des Warteraumes. Plötzlich schreit er mit einer Stimme, die in ihrer Gewalt überrascht und erschreckt:
Hallo?! Hallo?! Geht da nichts weiter? Gibt’s da einen Arzt?

Ein Pfleger eilt herbei: Bitte nicht schreien. Das ist ein Krankenhaus. Und bitte die Maske auch über die Nase ziehen! Sobald Ihr Blutbefund fertig ist, verständigen wir Sie.

Plötzlich ist der Aufbegehrende ganz sanft: Ja freilich, klar…

Als er vom Pfleger später aufs WC geführt wird, sehe ich: Er hat neue, leuchtend rote Raulederschuhe an.
Mir fällt Elvis ein mit seinen „blue suede shoes“.

Blue suede shoes - wie blau waren sie wohl wirklich? Tiefdunkel oder hellblau wie mein See? Mein Blick versinkt in seinem Himmelsspiegel. Doch der ist gerade nicht glatt. Kräuselwellen brechen jedes Bild in kleine Scherben, setzen sie zu neuen Bildern zusammen, ständig wechselnd.

Es ist nicht weit von der Notfallstation zur Pathologie. Wie ist das, das Sterben? Schreckliche Krankengeschichten tauchen vor dem geistigen Auge auf. Aber Achtung: Das ist LEBEN! Ist der Tod wie eine warme Umarmung? Niemand von uns weiß es.

Liebe Renate Amon, natürlich mach auch ich mir Gedanken darüber, deshalb hat mich Dein Bild so berührt. Ich schicke Dir dazu dieses Gedicht, das ich schon vor einiger Zeit geschrieben habe:

abtanz

und geht die sonne unter,
magisches licht.
blüten hüfthoher disteln – sie
werfen groteske schatten.
ich drehe und drehe mich
durch meinen tag
zum abend hin. wie
wird sie sein, die nacht,
die die tödin bringt?
und kühlt es schon ab,
wird schon dämmrig.
der dämmerschein:
hat er nicht
die kontur der tödin,
wartend?

Wenn jemand stirbt, der nicht im eigenen Haushalt lebte, weiß man es ja nie sofort. Behandelt ihn weiter wie einen Lebenden, macht Pläne, ärgert oder freut sich über ihn, mailt ihm eine Einladung für kommenden Sonntag. Und dann:
Die Verschriftlichung des Todes.

Wenn man es weiß, ist es ganz anders, ändert es die Welt. Da fehlt etwas, da ist etwas herausgefallen wie eine Zeile aus einem Text, wie ein Zahn aus einem Gebiss, wie ein Glühmittel aus einer Lampe, da ist eine deutliche Lücke. Pläne zerfallen zu Sand. Sobald man WEISS, kann man nie mehr so tun, als wisse man nicht. Erst dann ist jemand wirklich tot. Ab nun widerhallen die Gedanken in den Echokammern des Todes, über wie es war, was derjenige gesagt oder wie diejenige reagiert hätte. Ich weiß, wovon ich schreibe, denn ich habe kürzlich eine Freundin und einen Freund verloren, mit denen ich innige Seelenverbindungen hatte. Das Leben ist unerbittlich in seinem Sterben.

John Lennon schrieb darüber in dem Song „Beautiful Boy“: „Das Leben ist das, was sich ereignet, während du damit beschäftigt bist, Pläne zu machen.“
Nun Trauerarbeit. Es ist eine Form der Liebe, vielfältig und schmerzhaft wie die Liebe selbst. Noch lange lebt man mit den Verstorbenen zusammen. Ein Seelenleben, Hand in Hand entlang des versteckten Pfades an den Ufern des Seelensees. Auch hier wieder die Sehnsucht nach dem, was man verloren hat, die uneingestandene Suche. Bilder, die ineinander gespiegelt das Ersehnte vortäuschen. Versuchte Interpretation der Rätselschrift über dem Blau in Renate Amons Bild:

zu sehen glauben

und immer wieder frauen,
die wie die schwester sind.
lange noch
und von allein
sucht der blick in der menge.
lange – unter dem himmel
mit gurrenden, jagenden krähen
(wusste sie von den vielen
verschiedenen stimmen?)
lange noch das erschrecken, wenn
eine schwesterstatur,
eine vertraute bewegung
irritiert
irgendwo
bei einer fremden.

Wie entlang des Seelensees die Lichterkette der Bilder aufglüht, wie die Bilder aufleuchten, gewollt und ungewollt:

Eine neue Mitschülerin kam in unsere Klasse, die Ingrid. Sie fand anfangs nicht viel Kontakt, suchte daher zu beeindrucken mit ihren Erlebnissen. Ihr Vater war Gynäkologe. Damit konnte ich damals in der Unterstufe nicht viel anfangen. Heute frage ich mich: Führte er Schwangerschaftsabbrüche durch? Ingrid war ganz aufgeregt, sie mußte einfach etwas mitteilen, es brach aus ihr heraus: „Du, stell dir vor, wie mein Vater heimgekommen ist, hat er mir was gezeigt in einem Plastiksackerl: Etwas, das ausgeschaut hat wie Marmelade oder rotes Gelee. Das war ein Kind!!! Huh – grauslich…!“
Auch so kann der Tod aussehen.

Im Laufe des Lebens muss man oft das Blut aus der Feder waschen, reales und erdachtes. Verfärbt sich der Seelensee über die Jahre, wird er dunkler? Ich weiß es nicht. Mir scheint manchmal, je länger ich lebe, umso unsicherer wird Wissen.
Ich bin einem Spruch begegnet – oder wurde er mir gesendet?
„Du hast keine Seele. Du bist eine Seele – und hast einen Körper.“

Der vergeht. Vergeht.

es ist die seele

die quelle sein, aus der
sie alle schöpfen. und
anbieten, selber, das wasser,
dein innerstes.

was strömt, herausquillt, sich ausgibt -
verausgabt an
gedankenlos schöpfende.
dann leergelaufen. raubschöpfungsopfer.
und ausgeschöpft.

Redaktion: Edith-Ulla Gasser

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