Wolken

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Dokumentarisches Märchen

"Lebende Bilder" von Polina Barskova

Mit einer ominösen, um nicht zu sagen mysteriösen Figur, dem "Vergeber", beginnt Polina Barskovas Buch "Lebende Bilder" und im Schnee. Die Schneeflocken wuchsen und wuchsen, zuletzt sahen sie aus wie große weiße Hühner, heißt es da.

Eines der Hühner schüttelte sich, und plötzlich war es ein kleiner Säufer mit Plastiktüte in der Hand. Aus der Tüte ragte eine Geranie. Weitere, ebenso wenig identifizierbare Figuren kommen in ein Spiel, dessen Regeln unbekannt sind; darunter ein Dämon in Samtjacke mit Schillerkragen. Das Jahr 1913 wird genannt. Handelt es sich um den Dichter Alexander Blok, der die Revolution besingen wird? Vom Lesen ist die Rede, das nie aufhört, und schließlich steht da die Frage:

Wer bin ich denn, Charon vielleicht?

Charon, das ist bekanntlich der Fährmann der die Toten der Griechen in den Hades beförderter. Während Männer üblicherweise die Geschichte ihrer Väter erzählen, die gerade noch aus dem brennenden Troja herausgetragen werden, schlägt die aus Leningrad stammende und heute ein Amerika lehrende Lyrikerin und Slawistin Polina Barskowa die Gegenrichtung ein. Sie begibt sich in die Unterwelt und zu den Toten ihrer Geburtsstadt - die Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gehört zu den größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Mehr als eine Million Menschen kam dabei ums Leben.

Überbordende Einfälle, Witz

Das Unternehmen - das sei vorweggenommen - ist nicht ausschließlich düster, sondern von minutiöser, bisweilen verwirrender Präzision und Konkretheit, voll überbordender erzählerischer und stilistischer Einfälle, bisweilen voller Witz. Bekanntlich hat dieser Urteilskraft und Verstand zur Voraussetzung. Mit dem im ersten von neun Erzählstücken des Buches genannten "Vergeber" ist Primo Levi gemeint. Ein Bekannter des italienischen Auschwitz-Überlebenden und Autors hatte diesem einst vorgeworfen, er sei mit jedem weiteren Buch über das Überleben der Hölle versöhnlicher geworden - ein "Vergeber".

Barskova bringt alle Argumente und Gegenargumente vor, alle Verbote und Gebote, die sich jeder Autor, der sich aufs Territorium des Bösen begibt, zu stellen hat: sei es das der Konzentrationslager der Nazis, seien es die Folterkeller des Sowjetsystems oder die belagerte, die tote Stadt des Zweiten Weltkriegs. "Von der Erinnerung an das Leben im belagerten Leningrad geht paradoxerweise etwas Betörendes aus", wird ein Überlebender der Blockade zitiert - ein Ausdruck, der einem unmittelbar Betroffenen und Überlebenden erlaubt sein mag; aber wie - muss gefragt werden - wie verhält es sich mit den Nachgeborenen? Dürfen sie sich an diesen Orten literarische "Inspiration" holen?

Herantasten im Ritardando

Im Fall der Belagerung von Leningrad ist das Problem (nicht zuletzt für deutschsprachige Leser) doppelt verschärft: Die Blockade war nicht nur im Westen lange Zeit weitgehend unbekannt, sie wurde auch im eigenen Land, in Russland, heroisiert und entstellt. Barskova nähert sich dieser Vergangenheit über entsprechend komplizierter Umwege an: etwa über eine Ausstellung mit Bildern von Arshile Gorky, der nach dem Völkermord an den Armeniern in die USA auswanderte. Was dessen eigentlicher Name mit jenem Du zu tun hat, das hier voller Schmerz angesprochen wird, bleibt im Dunklen. Handelt es sich um den toten Geliebten der Erzählerin?

Das Ritartando des vorsichtigen Sich-Herantastens an die Vergangenheit endet mit der Erzählung "Modern Talking" über eigene Erlebnisse als Kind in einem Pionierlager in Karelien. Schwarzbeeren führen zu schwarzen Zähnen und die Erzählerin wird als Achtjährige zur Angebeteten des - wie es da heißt - "einzigen Trottels" der Gruppe. Unter den zu "Your are my heart, You are my soul" herumhüpfenden Jugendlichen breiten sich die Läuse aus; knapper und besser als Barskova hat noch niemand Modern Talking charakterisiert: "Paradiesasche, Discokugelblitze, Kokainraureif."

Blaues Buchcover mit weißen Büsten

Suhrkamp

Ein selbstironischer Ordnungsruf

Der Einkauf eines Kleides in der Moskauer Welt des Kindes, "Detskij Mir", enthält an versteckter Stelle einen unübersehbaren Hinweis auf elterlichen Sex - was Kinder halt so mitkriegen. Die Brüder Druskin und Daniil Charms, der während der Blockade im Gefängnis verhungert, tauchen auf, in "Persephones Hain" ruft sich die Autorin selbstironisch zur Ordnung: ob es nicht auch einfacher gehe, ohne Anspielungen und Anagramme, warum könne nicht einfach eine Geschichte erzählt werden, wie es gewesen ist, was sei daran so schwer?!

Der erzählerische Essay "Laubriss" über den Naturforscher und Verfasser von Kinderbüchern Witali Bianchi und den Dramatiker und Märchenautor Jewgenij Schwarz hätte sich - wie das ganze Buch überhaupt - mehr Anmerkungen und ein wenig ausführlichere Erklärungen verdient, als das Nachwort der renommierten Übersetzerin Olga Radetzkaja bietet. Nicht zuletzt, weil der mit sowjetischen und russischen Realien nicht vertraute Leser die grandiose Wucht des titelgebenden Stücks "Lebende Bilder" nicht wirklich zu ermessen vermag. Über die beiden Protagonisten des knapp fünfzigseitigen "dokumentarischen Märchens" Antonina/Totja und Moissej ein wenig mehr zu wissen, als es in diesem Endspiel aller Liebenden im ersten Winter der Blockade Leningrads der Fall ist, hätte dem Stück keinerlei Schaden zugefügt.

Wer singen kann, kann alles singen

Die siebenunddreißigjährige Kunsthistorikerin und der fünfundzwanzigjährige Maler tun nichts, sie sind in Lumpen eingewickelt; Schauplatz ist die Eremitage, ein leerer Saal, von den evakuierten die Meisterwerken Rembrandts sind nur leere Rahmen zurückgeblieben. Es geschieht praktisch nichts. Der Text ist umso wuchtiger: Angst, Erinnerungen an Essen, wo es nichts mehr zu essen gibt, rauchen, eine Aufseherin geistert durch die Szene, Moissej schreibt in seinem Tagebuch eines Höhlenmenschen, einmal heißt es mit Blick auf Rembrandt: "Was nützt diese ganze Pracht? Sfumato. Himmelarsch! Erstunken und erlogen! Hungerleider sind wir, davon sollten wir reden."

Und man versteht: genau jetzt, genau in dieser Lage wird Kunst gebraucht! Das Ende des Stücks ist tödlich - Totja verwandelt sich in die Schneeprinzessin und das Entsetzen des Lesers, der Leserin mag in diesem Moment genau jener Wirkung entsprechen, die der Tragödie schon an ihren Anfängen attestiert wurde: "eleos" und "phobos", Jammer und Schauder. Und die versprochene Katharsis, die Reinigung von Furcht und Zittern? Aus dem Radio ist eine Siegesmeldung zu hören. Auf Polina Barskovas "Lebende Bilder" trifft auf jeden Fall zu, was für alle große Kunst gilt: Wer singen kann, kann alles singen - auch von der Hölle!

Polina Barskova, "Lebende Bilder", aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp, Berlin 2020, 222 S.

Gestaltung

  • Erich Klein

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