Lichtschatten in der Finsternis

ORF/JOSEPH SCHIMMER

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Nahtod-Erfahrungen - an der Grenze des Lebens

Viele Menschen, die im Sterben waren, aber nochmals in dieses Leben "zurückgeholt" werden konnten und eine sogenannte "Nahtod-Erfahrung" erlebt haben, berichten von Licht, oder einem "Tunnelerlebnis". Sie sehen ihre Lebensstationen nochmals wie im Zeitraffer. Solche Erlebnisse sind seit Jahrtausenden bekannt, doch eine Erklärung, was dabei mit Körper und Geist tatsächlich passiert, fehlt bis heute.

Viele der Menschen, die eine sogenannte „Nahtod-Erfahrung“ erlebt haben, berichten auch von den Schwierigkeiten, sich im Alltag wieder zurecht zu finden. Zu einschneidend waren die Erlebnisse an der Schwelle zum Tod; zu intensiv die Erfahrungen von Licht, Raum- und Zeitlosigkeit.

„Ich konnte nicht mehr auf der Straße gehen. Alles war unglaublich hässlich. Alles hat mich gestört. Alles war zu laut. Alle haben zu laut gesprochen, zu laut Radio gehört. Die Fahrzeuge, alles war zu laut, zu grob.“

„Ich würde sagen, eine Nahtod-Erfahrung ist eine außergewöhnliche Erfahrung, ein außergewöhnlicher Bewusstseinszustand, in dem der Mensch kognitive Fähigkeiten hat, Einsichten über sich, sein Leben, Wahrnehmungen hat, die außerhalb des normalen Bewusstseins sind und die von einer derart verändernden Kraft sind, dass sie die Persönlichkeit und den Charakter dauerhaft ändern“, meint der Jesuit Godehard Brüntrup. Er ist Professor an der Hochschule für Philosophie München mit den Schwerpunkten Metaphysik, Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie. Er hatte selbst eine Nahtod-Erfahrung und beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Phänomen. Um selbst wieder in der Realität zu landen benötigte er nach eigener Aussage ca. fünf Jahre.

„In der Minute als ich das Licht sah - und das ist eine sehr große Lichterscheinung - wusste ich wo ich bin.“

Nahtoderfahrungen sind seit Jahrtausenden bekannt, doch eine Erklärung, was dabei mit Körper und Geist tatsächlich passiert, fehlt bis heute. Wie ist Wahrnehmung in einem klinisch toten Zustand möglich? Und was passiert mit dem Geist, wenn der Körper stirbt? Seit jeher beschäftigt das Leib-Seele Problem die Menschheit. Und nach wie vor steht die Medizin vor einer Herausforderung.

"Wir haben bisher keine Theorie darüber, warum wir überhaupt bei Bewusstsein sind. Und so lange wir diese Frage nicht wirklich wissenschaftlich geklärt haben, wie Bewusstsein entsteht, wird auch die Nahtod-Erfahrung ein Rätsel bleiben", sagt Godehard Brüntrup, Professor an der Hochschule für Philosophie in München.

Nur weil es wissenschaftlich nicht belegt werden kann, ist es nicht weniger relevant, davon ist der Theologe und Mediziner Matthias Beck überzeugt: „Wie viel Gramm wiegt ein Stück Liebe? Wie viel Zentimeter hat Vertrauen? Die wichtigsten Phänomene können wir nicht messen. Aber wir sind so naturwissenschaftlich gedrillt, dass wir sagen, nur das, was messbar ist, existiert. Wir glauben, alles ist nur existent, weil es die Naturwissenschaft misst. Aber der größere Teil der Welt ist eben nicht messbar. Liebe, Vertrauen, Ewigkeit. Alle Geisteswissenschaften sind nicht messbar, Philosophie ist nicht messbar. Wir müssen unterscheiden zwischen dem materiellen Gehirn und dem immateriellen Geist. Und der immaterielle Geist hat keine Ausdehnung. Der ist unendlich, wenn Sie wollen.“

„Ich bin auf einem Stuhl gesessen, links und rechts war eine Radwalze eingehängt, und diese Radwalze hat sich auf mich zugedreht. Die war so groß, dass ich mit den Händen gegendrehen konnte. Und ich habe gedreht und gedreht - ich habe gegen den Tod gedreht.“

„Das Problem bei diesen Nahtoderfahrungen liegt ja darin, dass es sich um subjektive Eindrücke handelt“, sagt der Gehirnforscher Michael Berger. „Und mit subjektiven Eindrücken kann man eigentlich noch keine Wissenschaft machen. Wissenschaft beginnt ja erst mit der Intersubjektivität.“

Michael Berger ist zurzeit mit einer Studie am Wiener AKH beschäftigt, die darüber Aufschluss geben soll inwieweit mentale Zustände wie Wahrnehmung und Bewusstsein das Phänomen Nahtod erklären können. Für die Studie wurde der Patientenkreis eng gehalten. Es müssen Patienten und Patientinnen sein, die einen Herzstillstand erlitten haben, ihn gut überlebt haben und bereit sind sich befragen zu lassen.

„Mit der großen Zahl von Beschreibungen wollten wir Gemeinsamkeiten erkennen, und wollten vor allem auch mit klinischen Parametern vergleichen können“, sagt Berger. „Das ist ein Ansatz, wie man zu Daten kommt, zu Messwerten kommt. Und das ist das Entscheidende, wenn man aus dieser Frage Nahtod-Erfahrung eine naturwissenschaftliche Frage machen will. Dann braucht man irgendein Instrumentarium, wie man da zu Fakten kommt und nicht nur zu Erzählungen.“

„Ich bin umgekippt von einem Raum in einen anderen Raum. Ich wusste, dass ich sterbe. Das war nicht schrecklich, das war nicht furchtbar, das war schön.“

Es gibt typische Elemente in Nahtod-Erfahrungen. Einige dieser Elemente kommen in allen Nahtod-Erfahrung vor, berichtet der Philosoph und Jesuit Godehard Brüntrup, er ist auch Professor an der Hochschule für Philosophie München.

„Das erste ist das klare Bewusstsein dass man stirbt. Das einem schlagartig klar wird: ich sterbe gerade.“ Dann kommt laut Brüntrup ein oft schlagartiger Übergang in eine andere Geisteshaltung. „Das wird sehr oft beschrieben als eine kristallklare Ruhe, eine tiefe, innere Gelassenheit. So als ob man einen Schalter umgedreht hätte. Ein weiteres Element ist dann die Tunnelerfahrung. Das man plötzlich das Gefühl hat, man wird in einen Tunnel hineingesogen und auf der anderen Seite, in einer anderen Dimension kommt man wieder heraus.“

Ein weiteres Element ist dann sehr oft der Lebensrückblick. Man nimmt in einer Art Panoramaschau sein ganzes Leben wahr. Man sieht wo man Gutes getan hat und wann man Menschen verletzt hat. All das ist, laut Brüntrup, mit einer tiefen Form der Empathie verbunden.

"Und dann kam ein explosives Glück, ein helles Glück, ein angenehmes, helles Licht. Ein Glück - wie es hier kein Glück gibt."

Der Professor an der Hochschule für Philosophie in München, ist davon überzeugt, dass eine letzte naturwissenschaftliche, philosophische und theologische Einordnung der Nahtoderfahrung vermutlich noch für längere Zeit aussteht. Dennoch können wir als Gesellschaft schon jetzt von den Betroffenen und ihren Erlebnissen viel lernen. Schließlich seien Tod und Endlichkeit - Themen, die früher oder später jeden von uns betreffen.

"Ich habe die Angst vor dem Tod komplett verloren. Ich habe noch Respekt vor dem Sterben, weil man weiß nie über welche Krankheit der Sterbeprozess geht und da Schmerzen sind. Aber vor der Endphase, wenn der Sterbeprozess vorbei ist und der Tod kommt, da warte ich wieder auf das große Glück" , sagt der Theologe Albert Biesinger.

„Der Mensch wird sterblich bleiben und deshalb fragen wir uns alle: wie ist das mit dem Tod? Was passiert überhaupt, wenn ich sterbe? Und da kommen Menschen, die klinisch tot waren. Menschen, die so nah am Tod waren, wie überhaupt ein Mensch nah am Tod dran war und da aus der eigenen Erfahrung berichten können. Und da wir uns alle für den Tod interessieren und für jeden von uns der Tod ein Thema ist, früher oder später, ist die Nahtod-Erfahrung interessant", sagt Godehard Brüntrup.

Gestaltung: Karoline Thaler