Hertha Kräftner und Heizkörper

WOLFGANG KUDRNOFSKY

Ö1 Kunstgeschichten

"Gesichtserkennung" von Dine Petrik

Dine Petrik beschäftigt sich mit der fotografischen Abbildung des Gesichts der burgenländischen Lyrikerin Hertha Kräftner. Sie sucht in dem Porträt Hinweise auf das Schicksal einer tragisch Frühverstorbenen. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Das Gesicht ist der Spiegel der Seele. Was für ein Satz. Und was hieße da Seele. Diese verhärmten Gesichter, die mich in der Kindheit umstanden. Und Invalide mit Krücken. Auch das Innere invalid, also die Seele. Nachkriegszeit. Man hat überlebt, gerade noch. Und das Leben geht weiter, aber wann fängt es an. Ums Aufkommen ging es in dieser steinigen Hutweid, die kaum etwas abwarf. Umso härter die Arbeit. Und danach wieder Arbeit. Der Stall braucht ein neues Dach. Das Haus feucht und finster, die zu kleinen Fenster kaputt. Seelenspiegel. Als trüge man Masken. Als hätte man zu verbergen. Nicht selten auch das: dass man beim "Judenfrei" mitgemacht hat. Was man dem anderen angetan hat. Nicht selten die Angst, dass gewisse Dinge ans Licht kommen würden. In sich gekehrte Gesichter mit harten Konturen. Der Blick schrägt am anderen vorbei, vor allem am Russen. Verstohlener Blick zurück, die Schatten dort. Die Russen, die täglich mit ihren Lastern den esterhazy'schen Wald abholzen fahren und dabei die Wege versauen. Und nicht nur die Wege. Die Angst vor den Russen, die auf dem Jahrmarkt auftauchen und lachend die angststarren Kinder hochheben. Und sich am Kirtag im Wirtshaus besaufen.

Die burgenländische Autorin Dine Petrik, geboren 1942, begann erst mit etwa 50 Jahren zu schreiben. Seither erschienen zwölf Buchpublikationen. Neben Romanen sowie Erzähl- und Gedichtbänden schrieb Petrik eine Hertha-Kräftner-Biografie mit dem Titel "Die verfehlte Wirklichkeit".

Was ein Gesicht ist. Eine verquere Logik, zwischen Zeitebenen hindurch Rückschau zu halten, eine okulare Gesichtserkennung, quasi, um tiefer zu schauen, in eine Menschentiefe, in die Seele einer jungen, begabten, wenn auch seelisch zerrütteten Dichterin der Nachkriegsjahre? Ob ich sie jemals gesehen hätte, wurde ich nicht erst einmal gefragt. Weil ich mich doch so intensiv und über Jahre hinweg mit ihr, der Dichterin, auseinandersetze, die Denkarbeit und das Recherchieren - und - ob ich ihr denn je ins Gesicht geschaut hätte? Nicht wirklich, müsste die Antwort lauten. Zeitlich hätte es sich ausgehen können, aber die unterschiedlichen Kontexte, denen wir entstammen, hätten doch keinen Treffpunkt oder Bezugspunkt ergeben, der mir die Gelegenheit geboten hätte, ihr ins Gesicht zu schauen. In ein Gesicht, das mir nun schon seit Jahrzehnten nachläuft.

Und wenn doch, welches Merkmal, welcher Bezugspunkt wäre dann hängengeblieben? "Die is' a Dichterin", wäre im Kinderhirn hängen geblieben. Dichterin. Und Gesicht. Was für eines. Was macht ein Gesicht aus? Die Mimik? Die hohen Backenknochen? Das herzförmige oder eher schmale Gesicht? Das besondere Merkmal?

Silvia Meisterle

JAN FRANKL

Silvia Meisterle, geboren 1978 in Wien, wuchs in Perchtoldsdorf auf. 2008 debütierte sie am Theater in der Josefstadt, seit 2010 ist sie festes Ensemblemitglied. Ö1 Hörerinnen und Hörern ist ihre charismatische Stimme aus ungezählten Literatursendungen vertraut.

Das, was jetzt zu sagen wäre über ein Gesicht, das in Paris auf die Liebe wartet und zugleich feststellt: "Ich weiß wieder, daß die Sintflut wartet", und sich nach "einer Arche sehnt, die zu spät kommt". Eine die notiert: "Paris ist nur eine Ausflucht, ein Hohn, um mir noch einmal zu zeigen, was ich verlieren muss", und zugleich festhält: "Ich möchte tanzen", den Blick vom Trocadéro herab auf Paris geheftet. Ein Blick aus dem inside, aus dem Seelenchaos heraus oder wie es Friedrich Nietzsche sagt: "Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können." Doch der Tanz mit dem Stern ist ein Trugspiel gewesen, ist bloß der "Tanz roter Lichter an der Spitze des Eiffelturms" gewesen. Voll mit diffusen Erwartungen war sie, nach Verlassen des Gare de I’Est, hineingestürzt in eine Atmosphäre aus neuen Gerüchen, in einen Schwall Französisch, in eine heitere, vielleicht herrschaftlich heitere Gesellschaft, in Duftschwaden aus Bistros, Cafés und Parfums, hatte sich von den unversehrten Boulevards und ihrem Lichtermeer mittragen lassen, und dieses Licht innen gespürt; eine Erhellung in ihrem Gesicht. Und im Blick fast alles makellos, im Vergleich mit dem Nachkriegschaos in Wien. "Paris ist eine offene, großzügige Hand", hält sie resignierend fest: "Du stehst und siehst, wie sie sich auftut, aber du weißt nicht für wen. Nicht für dich. Nicht für dich." Noch in Paris schreibt Hertha Kräftner an Harry Redl, der ihr hätte folgen sollen. "Anfangs zog alles vorbei wie ein rollender Teppich, auf den man nicht zu steigen wagt; ich war blind und verstört und suchte den ruhigen Punkt, an dem diese bewegte Welt hängt. Ich fand ihn. Er ist über das Schön-Sein hinaus."

Eine Ausflucht. Die Hoffnung: Paris mit ihrer Wiener Kurzzeitaffaire Redl, ist zum Trugspiel geworden. Eine Enttäuschung, die es, wieder zurück in Wien, zu verbergen gilt im Gesicht. Kein wirklich schönes Gesicht. Oder ein schönes Chaosgesicht. Aber schön: schönes Gesicht? Ein ästhetischer Reflex, ausgelöst durch ein schönes Lächeln? Im Moment des schönen Augenaufschlags? "Das ästhetische Gefühl benötigt Reflexion", hält Immanuel Kant fest.

Was für ein Gesicht ließe sich reflektieren, welches Merkmal wäre in meinem damals acht-neunjährigen Kinderhirn hängengeblieben? Ein Gesicht, das einer der damaligen Mentoren, bemüht um das zu erwartende „Gelingen“ der Nachkriegsliteratur, so festhält: "Der hellbraune Teint, die silbern vernebelten Augen." Und in seiner eigenen Nachkriegsdichtung festhält: "Ein Mädchen, verdorben im Bette. Der Ansatz zu einem Gedicht. Ach, eine blasse Brünette mit schönem, verträumten Gesicht." Ein "Gesicht des Widerspruchs von dicht und lose, verstreut an Augenblicke, die es liebt", wie sie es selbst sieht und festhält, "und so, als ging es schmal ins Ausweglose, von dem es weiß, daß es besiegt."

Das ausweglose Chaos besiegt? Und dieses Innere ein Daheim? Wo wäre der "silbern vernebelte" Blick daheim gewesen? Und was hieße daheim? Daheim ist Wien Alxingergasse bei Oma und Tante. Daheim ist Mattersburg Lisztgasse bei Mutter und Bruder. Daheim hält sie fest: "Die Tage sind endlos. Aber manchmal vergesse ich alles."

Was wäre zu vergessen gewesen. Das nicht Sagbare, das zu Verdrängende. Daheim ist die Horrorstube. Der Russe. Die Blutlachen. Tod und Verletzung. Dazu das Gefühl der Schuld. Das Gefühl, hier geht nichts mehr gut. Und doch: Dieser unentwegte Geltungsanspruch durch und über die Sprache. Als ob hineingeboren in diese, direkt und wahrhaftig. Und doch angedacht als Fiktion. Wenn auch nicht so im Papier. Aber Anflüge von Ironie und Sarkasmus. Dazu diese chaotische eigene Lebenshaltung, dieser Selbstwiderspruch, dieser Resonanzkörper aus Lust und Schmerz, und die Inkaufnahme hämischer Reaktionen, nicht nur in Mattersburg.

Und doch die ständige Suche nach Halt, allem voran bei ihm, den sie in Briefen Anatol nennt, nach dem Ehehafen mit ihm. Wenngleich eine stark verheimlichte Suche. Und doch eine Art Zugzwang damals, bei den unentwegten Heiraten der Freundinnen, der so genannten. Eine fast vierjährige Beziehung mit Lücken und Brüchen. Dieser Halt wäre einer gewesen? Und doch ständig Trennungsgedanken. Ins Tagebuch notiert sie: "Wenn ich gehe, werde ich ihm nichts zerschlagen, denn er hat nichts aufgebaut, das sich auf mich gründet."

Und Weihnachten, Ostern und fast alle Sommer in der Mattersburger Horrorstube: "Manchmal vergesse ich alles." Literatur. Bücher. Unentwegtes, unhintergehbares Lesen. Schreiben. Und doch: "Die Skala meiner Depressionen erreicht hier immer ihren tiefsten Punkt." Und doch Ablenkung, Zerstreuung. Der geliebte jüngere Bruder, die ihr ständig neue Kleider nähende Mutter. Und nach dem Tod des Vaters, ein langes Siechtum, dem sie feige nach Wien entflohen war, auch die Verwandtschaft, die Bäckerei. Fluchtpunkte. Jede Ablenkung ist eine Suche nach Halt. Mattersburger Kirtage, alles ist recht. "Ich nehme alles an", notiert sie. Den Neffen besuchen. Der Blagus fuhr. Luftlinie Mattersburg - Kobersdorf zehn Kilometer. Haltsuche. Versuche, die Bodenhaftung nicht zu verlieren: "Gehen, gehen, bis man nicht mehr kann und selbst dann noch weitergehen, sterben im Gehen, und im Hinfallen noch die Straße spüren, die weitergeht. Aber ich hatte meinem Vater versprochen, immer wiederzukehren."

Und was wären da noch an Details zum Gesicht dieser Zeit, der Besatzungszeit festzuhalten: Die klamme Angst in den Gesichtern, dass die Besatzer sesshaft bleiben würden. Dieser Kräftnerverwandte, ein Jahrmarktfahrer, der gleich nach Kriegsende in Kobersdorf eine Bäckerei aufgemacht hat. Leerstehende Judenhäuser gab es genug. Die nicht eingestandene Scham, nach der gewesenen NS-Kriegssucht, jetzt in dem krankmachenden Zustand der Fremdbestimmtheit gelandet zu sein. Und dass trotz dieser ab 1947 auch in den Dörfern die Elektrifizierung betrieben worden ist. Oder auch, dass trotz dieser wir Kinder an Sonntagnachmittagen auf rostigen Fahrrädern nach Kobersdorf geradelt sind. Das herrlich prickelnde, ein wenig modrig schmeckende Gratissauerwasser, das auch die Russen nicht verachteten. Den Hebel drücken und nach dem gelöschten Durst den Kanister füllen. Danach einen Schwenk hinein ins Dorf. Am Schloss vorbeischauen. Die Schatten dort - drinnen hausen die Russen (hinterließen nach Abzug eine ausgeräumte Totalruine). Zur Linken also am Judentempel vorbei. Eingangstor und Fensterlöcher mit Brettern verschlagen, Jugendstil, eine der wenigen Synagogen, die überlebt haben. Ziemlich nebenan die Bäckerei. Schaumspitz und Gugelhupf um 30 Groschen. Neu, wenn auch unerschwinglich die Kokoskuppeln, um die wir uns schon am Jahrmarkt gerissen haben. Ließ sich vom Bäcker, der den Kunden abfertigt: "Sie is' a Dichterin" nennen.

Und dieses in den Raum hineingehängte durchscheinende Oval das Gesicht der Dichterin? Ein Gesicht mit bräunlich vernebelten Augen, die sahen, die sahen und nicht sahen, die über den Horizont sahen, durch mich hindurch, über alles und jeden hinweg.

"Das Gesicht meines toten Vaters,
das meinem ähnlich sieht,
wandelt in den Friedhofbäumen
hin und her.
Aber bald zerweht sein Haar
im Oktoberwind,
mit den gelben Blättern
fallen die Wangen zu Boden,
und die kleinen Vögel
mit den roten Federchen im Schwanz
picken nach den glänzenden Augen
wie nach braunen Früchten.
Da ist mein Vater wieder gestorben."

Der geliebte Vater, den sie täglich vor sich hat, wie er morgens vor dem Kachelofen sitzt und einheizt. Gesichtsverluste. Maskierungen. Verdrängungen. Und für lange Zeit die Verkennung und Negierung einer poetischen Kraft. Mit Ausnahme des beglückenden Höhenflugs, den ihr "Das Pariser Tagebuch" gewährt. Kräftner erhält den 1. Prosapreis nach einer Leserabstimmung in der Literaturzeitschrift "Neue Wege". Souverän und lyrisch und elementar: "Sie nannten ihn Amenophis und meinten das Unauffindbare. In seinen Augenwinkeln sammelte sich die Trauer von Generationen ... Um seinen jungen Hals liegt die Stadt Paris. Sie haben ihn von Ägypten hergebracht." Aber auch: "Manchmal spülen die Wellen den Mund eines Toten aus. Unter den Brücken sitzt eine ausgeleerte Sehnsucht und leidet an faulen Gerüchen" und "Bade dich in meinem Blut", hieß es bereits in ihrem Gedicht an den gefallenen Engel.

Der Herausgeber von "Neue Wege" rät ihr zu einem Roman. Kräftner beginnt mit dem "Roman in Ich-Form". An die teils verdrängten Negativbilder reihen sich die nicht glücken wollenden neuen. Schräge Blicke und Häme. Gesichtsverluste. Sonnenbrille darüber, Glacéhandschuhe, als wolle, als müsse sie unter diesen weiter ergründen, was an Verletzungen möglich ist. Und sich als Schmerz spürbar macht, bis hin zum letzten, zur letzten Lebenszeit: "Die Liebe kam noch einmal, aber vielleicht geht sie schon wieder vorbei. Ich bin dabei nicht glücklich geworden. Ich glaube kaum, dass ich glücklich gemacht habe ... Er kam ganz schmal durch den Herbst auf mich zu."

Zuletzt in einem mit alten Heizkörpern verstellten Raum. Fotos! Längst nicht mehr fotografierbar. Kein schöner Anblick. Die schönen „Augenblicke seit jeher zu vage, die Glücksmomente nie wirklich: "Wer macht die Wirklichkeit so trübe, daß ich sie verfehle?" Das Leben verfehlt. Suizid?!

"Mir tut das Herz weh", hat sie im "Pariser Tagebuch" festgehalten. "Ich lebe, leben will ich", notierte sie ein Jahr davor und "Ich bin schon eine Tote", gleich nach dem Einmarsch der Russen.

Veronal! An einem Tag im November. Mit dreiundzwanzig. "Immer gehen Kinder durch die Straßen, die sie erschrecken, und der Abend trinkt ihr Weinen und dunkelt davon und wird Nacht", hält sie in einem Abschiedsbrief fest, "lieber kleiner Bruder! Weine nicht mehr in mir". Bis zuletzt Schreiben, die Sprache ihr einziger Fluchtpunkt und einzigschönes Daheim.

Reflexionen über die Dichterin? Sie, unerreicht in der aus dem Inneren spiegelnden Seelensprache. Und was diese ihre Sprache betrifft, bin ich ihr niemals nachgelaufen. Der Philosoph Martin Heidegger lancierte noch in der Nachkriegszeit den sinnigen Satz: "Nicht wir haben die Sprache, die Sprache hat uns." Eine philosophische Auslegung? Ein locker verlorener Sager? Auf eine schöne Art richtig. Und zugleich falsch -

Triesterspital,13.November 1951:

Ein kurzer widerhall der seele noch
in dem gesicht
in eine ferne ohnegleichen
sind die flügel ausgebreitet
schon entledigt aller sinne
bloße zeichen auf den blauen lidern
ruhe stille.

still hast du dich jenen
längst entzogen
die dich biegen beugen
ernst belachen
ausleuchten
ins mark
in den exitus letalis

helles wehen licht fontänen
fügen sich ins atem lose

jetzt heilt jede wunde
jetzt seit immer

schräg ein lächeln
augen auf
das letzte wort ist nicht gesagt.

Redaktion: Edith-Ulla Gasser

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