Segel des Schiffes "Joseph Conrad"

AP

Joseph Conrad

"Der Niemand von der 'Narcissus'"

Den rauen Seemannsalltag auf und unter Deck hat Joseph Conrad in Worte gefasst. 1897 publiziert der legendäre polnisch-britische Schriftsteller, der selbst zur See gefahren ist, seinen Roman "The Nigger of the Narcissus" oder "The Children of the Sea". Er ist jetzt neu auf Deutsch übersetzt worden unter dem politisch geschmeidigeren Titel "Der Niemand von der ‚Narcissus‘" und schildert die Geschichte einer dramatischen Schiffsreise von Bombay nach London.

Berühmt wurde er mit der Figur des Captain Marlow, dem pflichtbewussten Seemann, den die schöne Fantasie vom weißen Fleck auf der Landkarte hineintreibt ins "Herz der Finsternis", wo Gier und Überheblichkeit der Elfenbeinhändler Land, Mensch und Tier schänden. Joseph Conrad wusste, wovon er schrieb. Er wurde 1857 in der heutigen Ukraine geboren, wuchs mit Polnisch als Muttersprache und Französisch als Umgangssprache auf, nahm mit 30 Jahren die englische Staatsbürgerschaft an und fuhr als Schiffsjunge, Steward und später auch als Kapitän der britischen Handelsmarine zur See. Er umschiffte die Kaps, bereiste sämtliche Wasserstraßen und Kontinente. Im Jahre 1884 heuerte er auf einem englischen Klipper, einem schnellen Segel-Frachtschiff namens Narcissus an. Damit waren die Erfahrungswelt und der Stoff ausgerollt, aus dem Conrad später Romane wie "Der Niemand von der ‚Narcissus‘" spinnen sollte.

Joseph Conrad

GEMEINFREI

Kann der Titel einen Roman diskreditieren?

Kann ein scheußlicher Titel einen großen Roman diskreditieren? Der beste Roman aus dem Frühwerk Joseph Conrads, 27 Jahre vor "Heart of Darkness" entstanden, heißt im Original "The Nigger of the ‚Narcissus‘". Wie soll ein Übersetzer oder eine Übersetzerin mit einem solchen Titel umgehen? Die deutsche Erstübersetzung 1913 überträgt ihn mit "Der Nigger vom Narcissus", eine DDR-Übersetzung mit "Der Nigger von der Narcissus", 1994 verfällt man gar auf den Einfall das Buch "Der Bimbo von der Narcissus" zu nennen.

Buchcover

MARE

Joseph Conrad, "Der Niemand von der 'Narcissus'" ist in der Übersetzung von Mirko Bonné im Mare Verlag erschienen

Mirko Bonné und der mare Verlag sind jetzt das Wagnis eingegangen dieses grandiose Stück Seefahrerweltliteratur gekonnt an seinen sprachlichen Untiefen vorbeizusteuern - ausführliches Nachwort mit Rechenschaftsbericht zur Übersetzung und Glossar mit genauer Erklärung des Seemannsvokabulars inbegriffen.

Metaphysik und herzzerreißende Ironie

Zum Plot: Die Dreimastbrigg Narcissus liegt im Hafen von Bombay und soll nach London segeln. Was sie geladen hat, erfährt man nicht. Denn es wird hier um eine andere Art von Fracht gehen. Die Besatzung meldet sich an Bord - darunter James Wait, ein schwarzer Riese, auf dessen Muskelkraft am Tau sich der erste Offizier Baker schon freut. Doch es kommt anders. Kaum ausgelaufen, stellt sich heraus, dass der donnernd hustende Matrose todkrank ist. Er wird während der gesamten Fahrt seine Koje nicht verlassen und noch vor dem Passieren der Azoren tot sein.

Die Fahrt beinhaltet einen infernalischen Sturm am Kap der Guten Hoffnung, der die Besatzung an die Grenzen ihrer Kraft und dem Wahnsinn nahebringt und das Schiff weitgehend zerstört, sowie danach beständigen Gegenwind und Flaute und damit einhergehend Durst und Hunger sowie eine Beinahe-Meuterei. Überlebenskampf pur also - währenddessen unter Deck das langsame Sterben des James Wait voranschreitet. Wie Joseph Conrad die Mannschaft auf dieses Sterben reagieren lässt, ist Psychologie, Metaphysik und herzzerreißende Ironie gleichzeitig.

Charisma des dahinschwindenden Riesen

Zu schwach zum Aufrechtstehen, ringt James Wait um seine Würde. Um sich und die Mannschaft nicht mit dem eigenen Sterben konfrontieren zu müssen, scheucht er die ihn bemutternden Matrosen abweisend und tyrannisch herum, ein schwarzer Sklavenhalter. Nur bei der Erbärmlichkeit des von allen verachteten Donkin, einem mit durchschaubar eigennützigen Methoden nach Geltung gierendem Männchen, ein Aufrührer und Schnorrer, fühlt er sich sicher. Ihm spielt er den gewitzten Simulanten, den frechen Drückeberger vor. Und der, selbst ein echter Drückeberger, geht ihm anfangs auf den Leim und bewundert ihn zeternd. Die Mannschaft, hin- und hergerissen zwischen Angst und Erbarmen, wird zunehmend angezogen vom Charisma des dahinschwindenden Riesen. Er wird zum umworbenen Mittelpunkt des Schiffes, zum Kapitän unter Deck.

Entsprechend der sich verändernden Beziehung zwischen der Mannschaft und dem Matrosen Wait taucht anfangs das Wort "Nigger" - von Bonné mit "Schwarzer" übersetzt - oft auf, im Laufe der Handlung wird es immer häufiger durch den Namen Wait, James oder liebevoll Jimmy ersetzt. Dass das N-Wort nicht nur für heutige Ohren unerträglich ist, sondern auch schon zu Joseph Conrads Zeiten herabwürdigend gebraucht wurde, ist nicht wegzudiskutieren, auch wenn es hier wohl eher dem Seemannsargot zuzuordnen ist, in dem die Skandinavier zu Käseköppen werden und der irische Seemann, der sich aufopfernd um Wait kümmert und dann untröstbar um ihn trauert, Belfast gerufen wird, wie übrigens auch der 20 Jahre lang zur See fahrende Autor unter den Seeleuten als "Polish Joe" bekannt war. Auch wenn also die Wortwahl der Roman-Figuren mitunter rassistisch ist, der Roman selbst ist es nicht. Gehen wir zurück zum ersten Auftritt des James Wait.

Der Schwarze war ruhig, gelassen, hünenhaft, stattlich …

… Die Männer waren näher gekommen und standen dicht beieinander hinter ihm wie ein einzelner Körper. Er überragte den Größten um einen halben Kopf. Er sagte: "Ich gehöre zum Schiff." Er sprach deutlich, mit sanfter Präzision. Die tiefen rollenden Töne seiner Stimme erfüllten das Deck mühelos. Er war von Natur aus spöttisch und so ungekünstelt herablassend, als hätte er von seiner Warte in eins fünfundneunzig Metern Höhe aus die ganze Unermesslichkeit menschlichen Irrsinns überblickt und wäre zu dem Schluss gekommen, sie nicht zu hart zu beurteilen …

Etwas Indirektes, aber umso Wirkmächtigeres

Die dunkle Hautfarbe der Figur spielt keine Rolle im Sinne von Zuschreibungen, was rassistisch wäre, von solchen kommt keine einzige im Roman vor, es geht dem Autor um etwas anderes. Das Dunkle dient als visueller Effekt zur Herstellung einer Metapher für den bei einer Seefahrt immer präsenten Tod. Conrad inszeniert den Auftritt Waits mit Licht und Schatten; die Mannschaft als ein einziger lebendiger Körper, hat ein schwarzes übergroßes Gegenüber, das bald zu einem Darunter wird. Eine sterbende Hauptfigur dunkel und unter Deck liegend als eine Art Negativ zum Leben auf Deck. Waits Satz "Ich gehöre zum Schiff" ist diesbezüglich wörtlich zu nehmen.

Die Präsenz Waits hat etwas Indirektes, aber umso Wirkmächtigeres, wie das Schiff selbst, das wesenhaft die Matrosen umfängt und schließlich schwer havariert im Londoner Hafen "sein Leben aushaucht" - wie es heißt. Mit ihm scheint der sterbende Matrose verbunden zu sein. Während der immer bedrohlicher werdenden Flaute meint der alte Steuermann Singleton, dass kranke Matrosen immer erst sterben, wenn Land in Sicht käme. Wait würde daher das Schiff aufhalten. Wait - Warten. Warten muss das Schiff auf Wind, die Mannschaft auf Weiterfahrt, bis der Tod von Bord gegangen ist.

Hervorragend übersetzt

Mirko Bonné betitelt seine hervorragende Romanübersetzung mit "Der Niemand von der Narcissus". Das ist elegant wie legitim, dieser "Niemand" bezieht sich auf eine Schlüsselszene gegen Ende des Romans, in der Donkin dem im Delirium träumenden Wait mit sadistischer Wahrheitsliebe klarmacht, dass er sterben wird, Angst hat und ein Niemand ist, eine Leiche, die ins Meer gekippt wird.

Zu kurz gekommen in diesem Beitrag sind Joseph Conrads spektakuläre Beschreibungen von Himmels- und Meereslandschaften, seine knappen wie präzisen Zeichnungen unvergesslicher Figuren, die erfahrungsgetränkten bis ins kleinste Schiffsdetail kenntnisreichen Schilderungen der Arbeitsvorgänge an Bord - und eine zu Conrads Zeit revolutionäre Erzählperspektive, die anfangs beim Einmustern der Mannschaft auktorial distanziert ist, auf See kollektiv personal wird - im größten Teil des Romans spricht ein "Wir" zum Leser - und im Hafen, als sich die Mannschaft zerstreut, einen Ich-Erzähler auftauchen lässt. - Alles Bestandteile eines literarischen Ereignisses über die existentielle Ausgesetztheit und den Zusammenhalt auf See. Zu kurz gekommen wegen des Versuchs dem Dilemma des rassistischen Romantitels beizukommen.

Service

Joseph Conrad, "Der Niemand von der 'Narcissus' - Eine Geschichte vom Meer", aus dem Englischen von Mirko Bonné, Mare Verlag

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