Überwachungskamera

APA/GEORG HOCHMUTH

Matrix

Brasilien auf dem Weg zum digitalen Überwachungsstaat

Einst galt Brasilien als Vorbild im Bereich digitaler Bürgerrechte. Doch der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro setzt zunehmend digitale Technologien ein, um Informationen über die brasilianischen Bürger und Bürgerinnen zu sammeln.

Eigentlich wäre jetzt in Brasilien Karnevalszeit. In Rio de Janeiro würden die großen Sambaschulen bereits intensiv für ihren großen Auftritt proben. Auf den Straßen wäre die Hölle los. Doch heuer wurde der Karneval offiziell abgesagt. Brasilien erlebt gerade seine zweite, sehr intensive Corona-Welle.

Keine Corona-Maßnahmen

Zu Beginn der Coronakrise waren nicht nur Ärzte, sondern auch brasilianische Datenschützer in Alarmbereitschaft: Was würde sich die Regierung unter dem ehemaligen Militär Jair Bolsonaro alles an Massenüberwachung einfallen lassen und die Pandemie als Vorwand nehmen? Doch zumindest diese Befürchtung sollte sich nicht – bzw. nur zu einem kleinen Teil – bewahrheiten, berichtet der Jurist und Datenschutzexperte Rafael Zanatta aus Sao Paulo: "Präsident Bolsonaro pfeift ja auf Covid. Deshalb hat er auch auf Maßnahmen des Contact Tracing verzichtet."

Präsident Bolsonaro versuchte sogar, digitale Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung zu verhindern: Als der brasilianische Wissenschaftsminister im März 2020 die Bewegungsdaten von Mobilfunkbetreibern verwenden wollte, um größere Menschenansammlungen zu identifizieren, legte Bolsonaro ein Veto ein: Eingriff in die Privatsphäre, so die Begründung. Und das obwohl weder Datenschützer noch brasilianische Gerichte ein Problem darin gesehen hätten: denn die Handy-Daten wurden anonymisiert ausgewertet.

Bizarre Dekrete

Die wahre Gefahr für Privatsphäre und digitale Rechte der Brasilianer und Brasilianerinnen habe längst vor Corona begonnen, betont der Datenschutzexperte Alexandre Barbosa aus Rio de Janeiro. Schon im ersten Jahr seiner Amtszeit (2019) habe Bolsonaro einige bedenkliche Dekrete erlassen: "Manche davon muss man als riskant bezeichnet, um nicht zu sagen völlig bizarr."

"Das steht so im Gesetz. Die Art zu gehen soll großflächig erfasst werden. Das ist schon erschreckend."

Ein solches Unterfangen ist der Cadastro Base do Cidadao – was so viel heißt wie "Bürgerbasisregister". Ein quasi über Nacht erlassenes Dekret verpflichtet brasilianische Bundesbehörden, ihre gesammelten Daten über die brasilianischen Bürger und Bürgerinnen in diesem Basisregister zusammenzuführen: Biometrische Daten, Finanzdaten, Gesundheitsdaten. "Sogar die Art zu gehen soll großflächig erfasst werden. Das ist schon erschreckend", berichtet Barbosa.

Hat eine Behörde also den Fingerabdruck eines Bürgers, dann weiß sie nicht nur Name und Wohnort der Person, sondern auch, ob sie schon einmal Sozialhilfe erhalten hat, wer die bisherigen Arbeitgeber waren, welche Impfungen und welche Strafzettel sie schon bekommen hat. Die liberale Zeitschrift "Carta Capital" listet dieses Bürgerbasisregister in ihren "Top Ten" von Bolsonaros größten Eingriffe in Bürgerrechte und Meinungsfreiheit in seinem ersten Regierungsjahr.

Bolsonaro sucht Feinde im eigenen Land

Viele moderne Staaten haben umfangreiche Datenbanken mit Informationen über ihre Bevölkerung, räumt Datenschutzexperte Barbosa ein, jedoch gebe es meist strenge Regeln, welche Behörde worauf zugreifen könne. In Brasilien nicht. Jede Behörde erhalte umfangreichen Zugriff auf alle möglichen Daten.

"Der Überwachungsstaat wird so umstrukturiert, dass er die Feinde im Inneren aufspüren kann."

Den Datenschützer Rafael Zanatta von der Organisation Data Privacy Brasil besorgt, dass diese umfassenden Datenbanken in die Hände von Militär, Polizei und Geheimdiensten gelangen könnten: "Bolsonaro will den Überwachungsstaat so umstrukturieren, dass er die Feinde im eigenen Land aufspüren kann." Der Präsident vermute seine politischen Gegner vor allem in sozialen Bewegungen und Universitäten.

Geheimdienst überwacht "Antifaschisten"

Die Sorge Zanattas ist berechtigt. Vergangenen Sommer wurde bekannt, dass ein Geheimdienst des Justizministeriums begonnen hatte, umfangreiche Dossiers anzulegen über Lehrer und Polizisten, die sich auf Social Media als "Antifaschisten" bezeichnet hatten. Die brasilianischen Höchstrichter stoppten diese Aktivitäten.

Und das war im vergangenen Jahr keineswegs das einzige Urteil des Obersten Gerichts gegen die Regierung im Bereich Datenschutz, berichtet Rafael Zanatta. Auch seine Organisation, Data Privacy Brasil, hat sich an mehreren Klagen gegen Erlässe des Präsidenten beteiligt – und gewonnen. Kein Wunder, dass der Präsident schlecht auf die Höchstrichter zu sprechen ist. Immer wieder kritisiert er diese Behörde öffentlich. Der Machtkampf zwischen der Regierung Bolsonaro und den Richtern bzw. Datenschützern hat wohl noch einige Runden vor sich.

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