Drei Menschen stehen zwischen zwei alten Häusern

INES PEDOTH

Hörbilder

Südtirol und die Jahre der Option

Eine Dokumentation mit originalen Tonaufnahmen der Südtiroler Bevölkerung von 1940 bis 1942.

Am 24. April 1921, vor 100 Jahren, attackierten italienische Faschisten den Festzug der Bozner Messe am Obstmarkt. Es gab einen Toten und 50 Verletzte. Es ist eine brutale, faschistische „Machtdemonstration“ gegen die widerständigen Südtirolerinnen und Südtiroler.

Historiker werten sie als Test, über den Benito Mussolini auslotet, wie weit Staat und Behörden schon dem Druck seiner erstarkenden Faschisten-Bewegung nachgeben. Die faschistischen Schlägertrupps können straflos und unter Polizeischutz aus Bozen abrücken. 1922 übernimmt der Duce mit dem ‚Marsch auf Rom‘ die Macht.

„Wenn in unserm Landl a fremde Fahne weht“

Für die Südtirolerinnen und Südtiroler, die durch den Vertrag von Versailles erst 1919 von Tirol abgespalten und Italien einverleibt worden sind, beginnt eine dramatische Zeit unter der faschistischen Diktatur. Das Gefühl dieser Zeit besingen sie in Liedern wie: „Wenn in unserm Landl a fremde Fahne weht“, oder „Ob das Tirolerland zerrissen wird in zwei“.

In ihren Liedern drücken Menschen oft das aus, was sie in ihrem Innersten beschäftigt. Eine einzigartige Sammlung von über 3.000 Volksliedern aus Südtirol dokumentiert die Sorgen, die Sehnsüchte und auch den Alltag des damals noch vorwiegend bäuerlichen Bergvolks auf eindrucksvolle Weise.

"Mit neuzeitlichen Schallaufnahmegeräten nehme ich jetzt systematisch urtümliche, deutsche Volksmusik auf."

Entstanden ist die Sammlung zwischen 1940 und 1942, als der Musikwissenschaftler Alfred Quellmalz im Auftrag der nationalsozialistischen Forschungsgemeinschaft „Deutsches Ahnenerbe“ über 400 Magnetbänder aufgezeichnet hat. Es war der weltweit erste große Feldeinsatz einer neuen Schallaufnahmetechnik. Zwei Jahre lang reist er bis in die entlegensten Täler und Bergdörfer Südtirols und dokumentiert das Kulturgut der Einheimischen.

In seinen Briefen erzählt das NSDAP-Mitglied Quellmalz von seiner Arbeit: "Ich selbst habe durch den Krieg neue, schöne Aufgaben erhalten. Mit neuzeitlichen Schallaufnahmegeräten nehme ich jetzt systematisch urtümliche, deutsche Volksmusik auf. Es wird Sie vielleicht dazu interessieren, dass das gesamte Kulturgut der umzusiedelnden Volksdeutschen in Südtirol wissenschaftlich aufgenommen wird. Die Anordnung geht auf Heinrich Himmler zurück. Morgen reise ich wieder in mein Aufnahme-Gebiet."

„Wir sind halt dagesessen und haben gehorcht, verstanden haben wir logisch nichts."

Die 1925 geborene Anna Gius aus Bozen erinnert sich im ‚Hörbild‘ an ihre Volksschulzeit, in der deutschsprachiger Unterricht verboten war: „Wir sind halt dagesessen und haben gehorcht, verstanden haben wir logisch nichts. Bis sie uns schließlich mit Händen und Füßen gezeigt haben, was wir zu tun haben. So langsam, langsam ist etwas hängen geblieben und wir haben etwas verstanden.“

Zu dieser Zeit blicken viele deutschsprachige Südtiroler hilfesuchend nach Deutschland. Dort bereitet Adolf Hitler bereits seine Machtergreifung vor und hat den faschistischen Diktator Italiens längst zu seinem Vorbild erwählt. Die Situation spitzte sich Ende der 1930-er Jahre zu, als die Südtiroler gezwungen werden, zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland zu wählen.

"Wer in der Heimat bleiben wollte, so wie wir, der galt als Verräter gegen das Deutsche."

1939 einigen sich die Führer Adolf Hitler und Benito Mussolini darauf, das Südtirol Problem ein für alle Mal durch die "Option" zu lösen: Wer weiter in der Heimat leben will, musste einwilligen, auf die deutsche Sprache und die Tiroler Identität zu verzichten. Alle anderen sollten ins Großdeutsche Reich Hitlers auswandern. Teils aus Verzweiflung, teils aus nationalsozialistischer Begeisterung stimmen über 80 Prozent für die Abwanderung.

Es ist eine Zeit, in der Freundschaften zerbrechen, Familien sich zerstreiten und Dorfgemeinschaften sich entzweien. Theresia Sanin, 1930 in St. Pauls geboren, war das jüngste von 11 Kindern einer Bauernfamilie und kann sich noch gut erinnern: „Die Fenster haben sie uns mit Steinen eingeschlagen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Jede Seite war so überzeugt von ihrer Entscheidung. Wer in der Heimat bleiben wollte, so wie wir, der galt als Verräter gegen das Deutsche. Doch wir wollten das Deutschtum in der Heimat bewahren, sonst wäre ja alles den Italienern geschenkt gewesen.“

Eine Zeit, über die bis heute nicht gerne geredet wird

Viele der Südtirolerinnen und Südtiroler, die auf Tonband aufgenommen wurden, stehen kurz davor, ihre alte Heimat aufzugeben. Die Magnetbänder geben nicht nur lebendig und authentisch Einblick in die Traditionen und den Alltag der Menschen vor über 70 Jahren, sie halten Südtirol auch einen Spiegel vor und dokumentieren eine Zeit, über die bis heute nicht gerne geredet wird.

Der 1953 geborene Georg Dignös lebt seit der Auswanderung mit seinen Eltern in München. Südtirol ist er stets verbunden geblieben: „Die Devise, diese Dinge nicht anzusprechen, weil sich die alten Spannungen neu hätten entzünden können, das hat sich auf Dauer nicht durchsetzen lassen. Jetzt werden die Dinge so dargestellt wie sie wirklich waren.“

Die Feature-Autorin Ines Pedoth ist in Südtirol aufgewachsen, arbeitet und lebt in Wien. Sie ist überzeugt, dass es einen Menschen wacher macht, wenn er in einem Land mit einer so wechselvollen Geschichte und mit mehreren Kulturen aufwächst.