Herbert Stradner

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Dimensionen

Der alte Mann und das tiefe Meer

Der 96-jährige Österreicher Herbert Stradner ist ein Pionier der Meeresforschung. Der Paläontologe war ab den 1970er Jahren bei Tiefseebohrungen des legendären amerikanischen Forschungsschiffes "Glomar Challenger" dabei.

Die Bohrkerne brachten revolutionäre Ergebnisse: So stellte das Forscherteam fest, dass das Mittelmeer vor fünf bis sechs Millionen Jahren ausgetrocknet war. Der führende Experte für Nannoplankton, für Kleinstfossilien, war daran maßgeblich beteiligt.

„Es war Abenteuer von Anfang bis zuletzt, spannend“

Am 13. August 1970 stach die „Glomar Challenger“ unter US-amerikanischer Flagge in See. Sieben Wochen lang sollte die schwimmende Bohrinsel das Forschungslabor des heute 96jährige Wissenschaftlers werden. Herbert Stradner schrieb mit den Ergebnissen Wissenschaftsgeschichte.

„Ich war damals genau 50 jahre jünger“, sagt Herbert Stradner lächelnd. Er war einer von zehn Forscherinnen und Forschern, die auf dem legendären Forschungsschiff arbeiteten. Das Schiff wurde seit 1968 für das Deep Sea Drilling Projekt eingesetzt - es sollte die Plattentektonik und die Paläo-Ozeanografie erforschen.

„Ich habe im Gewand geschlafen und oft hieß es nach nur drei Stunden wieder „core up!“

Tag und Nacht wurde gearbeitet, mehr als 200 Bohrkerne zog die Glomar Challenger an 15 Standorten. Das tiefste Bohrloch hatte eine Länge von 915 Metern. Sobald die Bohrer aktiv waren, zitterte und vibrierte das ganze Schiff, erinnert sich der Forscher: „Ich habe im Gewand geschlafen und oft hieß es nach nur drei Stunden wieder „core up!“, wenn ein neuer Bohrkern war an Bord geholt wurde“.

Herbert Stradner war als Paläontologe auf das Schiff eingeladen worden. Schon allein das war eine Auszeichnung, meint Thomas Hofman von der Geologischen Bundesanstalt in Wien, der das Buch „Abenteuer Wissenschaft“ geschrieben hat. Stradner hatte eine einzigartige wissenschaftliche Expertise vorzuweisen.

„Seine Pionierrolle liegt darin, dass er sich mit Organismen beschäftigt hat, mit denen sich sehr wenige Leute vorher beschäftigt haben: mit Nannoplankton“, sagt der Mikro-Paläontologe Werner Piller aus Graz. Stradner machte die Gruppe von Algen, die planktische Lebensweise haben und kleine Kalkplättchen abscheiden, erst „salonfähig“.

Jede einzellige Alge, die nur ein paar Tausendstel Millimeter groß ist, hat einen Panzer gegen die Außenwelt. 1 Zelle hat zwischen 10 und 20 dieser Plättchen an der Lebenssubstanz. „Wie das Schuppenhemd eines Ritters. Die Meeresflagellaten bilden Plättchen mit wunderbarer Geometrie“, meint Stradner begeistert. Für ihn als Paläontologen sind diese Formen eine wichtige Informationsquelle. Denn jede Art, die im Gestein abgelagert ist, gibt einen eindeutigen Hinweis auf das Alter des Gesteins. Die Kleinstfossilien sind also der Schlüssel für die Altersbestimmung.

„Wie können sie bei hohem Seegang ab Windstärke 5 den Teller am Tisch halten?"

Stradner reichte eine winzig kleine Probe für die Untersuchung unter dem Mikroskop. „Nur so groß wie ein Reiskorn“, sagt er. Dann konnte er sofort das Alter der Bodenprobe feststellen. „Ich hab ja damals schon zehn Jahre lang nichts anderes gemacht, als diese einzelligen Fossilien zu untersuchen“, sagt Stradner bescheiden. Um seine Expertise zu unterstreichen: Der Paläontologe hat mehr als 100 neue Arten entdeckt und beschrieben.

Das Mikroskopieren auf dem Schiff war schwierig. Was nicht niet und nagelfest war, rutschte bei hohem Seegang hin und her. Die Mikroskope mussten mit Gummibändern festgezurrt werden. „Wie können sie bei hohem Seegang ab Windstärke 5 den Teller am Tisch halten? Nasses Frottierhandtuch und auf das nasse Tuch den Teller stellen, der Teller rutscht nicht mehr!“, erinnert sich Stradner an einen einfachen Trick.

Die Glomar Challenger setzte neue Maßstäbe, was die Technik betraf. Sie war eines der ersten Schiffe, die mit vier speziellen Wasserdüsen ausgestattet war, sodass das Schiff auch bei starkem Seegang auf Position blieb, wenn es in 3000 Metern Wassertiefe bohrte.

„Keiner wäre auf die Idee gekommen, dass gleich das ganze Mittelmeer ausgetrocknet gewesen ist."

Am 28. August 1970. Die Glomar Challenger liegt südöstliche von Barcelona. Core up heißt es wieder.
Die ersten Gesteinsproben kommen nach oben. Herbert Stradner sitzt wie immer am Mikroskop und kann es nicht fassen, was er sieht. Die wissenschaftlichen Leiter Bill Ryan und Ken Hsü sowie die Paläontologin Maria Bianca Cita schauen ihm nervös über die Schulter. Nanno-Herb, wie ihn die Kollegen auf dem Schiff nennen, lässt sich Zeit.

„Ich bin beim Mikroskop gesessen und hab mir gedacht, jetzt schaust mal so lang, bist du ein marines - die sind so schön sternförmig - bis ich so ein Vieh find, nichts, nur Süßwasser!“, erinnert er sich an den Moment der irritierenden Erkenntnis. Das war eine absolute Sensation. Denn damit war klar: Es muss hier einst Brackwasser, also Süßwasser, gegeben haben. Als das Mittelmeer langsam verdunstete. „Keiner wär auf die Idee gekommen, dass gleich das ganze Mittelmeer ausgetrocknet gewesen ist“, erinnert sich Stradner an die Diskussionen damals. Da das Forscherteam auch Evaporiten, also Verdunstungsgesteine fand, war die Theorie bald handfest untermauert. Das Mittelmeer war vor rund 6 Millionen Jahren eine Wüste.

Als sie am 6. Oktober 1970 nach Lissabon zurückkehrten, hatten sie bahnbrechende Entdeckungen gemacht, aber auch viele Fragen mitgebracht. 1972 schickten Hsü, Ryan und Cita ihre Ergebnisse an die renommierte Zeitschrift "Nature", ein Jahr später wurde ihre Arbeit über die Austrocknung des Mittelmeers vor 6 Millionen Jahren veröffentlicht. Herbert Stradner ist nicht als Co- Autor angeführt.

Die bis zum August 1970 unbekannte Austrocknung des Mittelmeeres vor rund sechs Millionen Jahren ging als „Messinische Salinitätskrise“ in die Fachliteratur ein.

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