Roter Platz, Moskau

AP/ALEXANDER ZEMLIANICHENKO

Roman von Viktor Jerofejew

"Enzyklopädie der russischen Seele"

Sie gilt als tief, melancholisch und vor allem unergründlich: die berühmte "russische Seele". Doch welche Besonderheiten hat sie wirklich, die russische Mentalität? Diese Fragen will der Moskauer Schriftsteller Viktor Jerofejew in seinem Roman "Enzyklopädie der russischen Seele" beantworten, der nun auf Deutsch erschienen ist.

Darin beschreibt Jerofejew liebevoll, ironisch und schonungslos zugleich, warum ein normales Leben in Russland nicht möglich ist, sich die Geschichte stets wiederholt und warum sich die Russen von einer geheimnisvollen "grauen" Figur leiten lassen. Der Roman löste nach seinem Erscheinen in Russland eine Welle der Empörung aus und der Autor wurde wegen Russlandfeindlichkeit angezeigt.

Viktor Jerofejew ist seit Jahrzehnten dafür bekannt, dass er seinen Lesern ein schonungsloses Bild von Russland bietet. Darin bleibt sich der 73-jährige Autor auch in der "Enzyklopädie der russischen Seele" treu. Der Held des Romans ist ein russischer Intellektueller. Er will Russland zu Fortschritt und Entwicklung verhelfen und den Menschen zu einem normalen, glücklichen Leben. Doch der Held scheitert.

"Ein Roman tiefster Verzweiflung"

Als einen Roman tiefster Verzweiflung beschreibt Wiktor Jerofejew die "Enzyklopädie der russischen Seele": "Mein Held hat an bestimmte Ideale geglaubt, doch als er sie erreicht hat, sind sie zerbrochen und er war völlig enttäuscht."

Viktor Jerofejew schrieb den Roman schon Ende 1990er Jahre. In einer Zeit, als Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwischen bisher ungekannter Freiheit, Raubtierkapitalismus und Gesetzlosigkeit taumelte. Ein explosives Gemisch. "Wenn alles explodiert, werden die Züge des russischen Charakters und der russischen Seele sichtbar. Ihre Verzweiflung, ihr Widerspruch, ihre Liebe und ihre Laster", so der Autor.

Buchumschlag

VERLAG MATTHES & SEITZ

1999 Schock ausgelöst

Jerofejews Held beschreibt die Russen als irrational. Sie lieben und trinken bis zur Besinnungslosigkeit, sehnen sich nach einem guten Leben, sind aber faul und verstehen nur die Sprache der Gewalt. Russen müsse man prügeln und an die Wand klatschen, meint der Held in Wiktor Jerofejews Buch. Sonst würden sie aufhören, Russen zu sein.

Einen Schock habe das Buch nach seiner Veröffentlichung 1999 ausgelöst, denn so viel Verzweiflung habe es in der russischen Literatur noch nie gegeben, erinnert sich Viktor Jerofejew. 2010 wurde er wegen Aussagen in der "Enzyklopädie der russischen Seele" angezeigt. Der Vorwurf: Russlandfeindlichkeit. Bald wurden die Ermittlungen jedoch eingestellt. Dass er nicht verurteilt wurde, bezeichnet Jerofejew als reinen Zufall.

Putin als "halbstarker Zar"

Von ihrer politischen Brisanz hat die "Enzyklopädie der russischen Seele" bis heute nichts verloren. Allein schon wegen der zweiten Hauptfigur, des mysteriösen "Grauen". Es ist ein mächtiger und brutaler Halbstarker, der das Land kontrolliert. Wer in ihm Wladimir Putin erkennen will, irrt nicht: "So einen Halbstarken haben wir bekommen, einen halbstarken Zaren", sagt Viktor Jerofejew. Es sei die Mystik dieses Buchs, dass er das schon 1999 vorhergesehen habe.

Diese Figur des "Grauen" beschränke sich aber nicht auf die Person Putins, vielmehr sei sie das kollektive russische Unterbewusstsein. Das aufgrund der Geschichte des Landes jegliche Eigeninitiative verhindere und allem gegenüber misstrauisch sei.

Aufruf zu mehr Selbstkritik

Doch wie sieht Viktor Jerofejew persönlich die Zukunft Russlands? Ist er ebenso pessimistisch wie sein erfundener Held? Nein, meint der Schriftsteller. Doch die Menschen müssten selbstkritischer werden und dürften nicht nur der Staatsführung die Schuld an allem Übel geben. Denn auch die Russen selbst seien Teil des geheimnisvollen "Grauen", der die Entwicklung des Landes lähme.

Service

Viktor Jerofejew, "Enzyklopädie der russischen Seele", Roman, aus dem Russischen von Beate Rausch, Matthes & Seitz

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