Gespräch mit Autor Viktor Jerofejew

Aufgewachsen ist er zwischen westlicher Welt und Stalinismus - sein Vater war Dolmetscher von Stalin und Botschafter in Paris und Wien. Als sein Sohn jedoch in die Dissidentenszene abtauchte, wurde er als Diplomat abberufen. Viktor Jerofejew konnte erst nach dem Ende der Sowjetunion publizieren, mit Romanen wie "Die Moskauer Schönheit" und "Der gute Stalin" feierte der heute 66-jährige große Erfolge. Sein neues Buch "Die Akimuden" ist eine literarische Satire auf Russland.

Russische Pelzkappe mit Sowjetstern

(c) Ilnitsky,EPA

Die Akimuden, das ist ein Roman zwischen Historischem Roman und Science Fiction - die Toten werden da wieder lebendig und übernehmen in Moskau die Macht - die Toten, das ist ja auch die Vergangenheit - ein verlockendes Szenario?

Russland ist ein Land, in dem Toten wütend sind auf die Lebenden. Weil so viele Unschuldige ermordet wurden und so viele wegen schlechter Lebensbedingungen gestorben sind. In diesem Buch sehen wir die Revolution der Toten. Es ist ein historisches Buch über die Zukunft.

Wird Russland von seiner Vergangenheit eingeholt?

Ja. Wir kennen unsere Geschichte nach wie vor nicht, wir versuchen noch immer so zu tun, als wäre Geschichte so etwas ist wie ein optimistischer Roman. Wir müssen uns endlich unserer Geschichte stellen. Dieses Buch ist nur ein Schritt in diese Richtung.

Bei aller Dramatik - in Ihrem Buch spielen Witz und Ironie keine geringe Rolle. Eine absurde, phantastische Komik ist das - sie beziehen sich auf Gogol, Charms oder Bulgakow?

Nun, alle drei, besonders aber Gogol und Charms, das sind die russischen Schriftsteller, die ich am meisten schätze. Wenn man in einem Land gegen Missstände ankämpft, wie Korruption, Dummheit oder Bürokratie, dann macht man das besser mit Humor und Ironie als mit ernsthaften Reden. Denn bei ernsthaften Reden fangen die Menschen an, sich zu langweilen; sie mögen solche Reden nicht. Aber mit dem Lachen vergehen auch die schlechten Dinge. Humor meine Waffe.

Sie machen sich ja auch über ihren Ich-Erzähler lustig - für ihn und seine Familie ist Stalin eine fixe Größe - sind da autobiografische Anklänge zu hören?

Na klar, natürlich. Dieser Mann ist mir sehr nahe, so nahe, dass man manchmal sagen kann, das sei ich, dann entfernt er sich aber wieder von mir. In meinem letzten Buch "Der gute Stalin" habe ich ja über meinen Vater geschrieben, der Stalin gut kannte und sein Französisch-Dolmetscher war, mein Vater war ein weltoffener Mann. Wir lebten einige Jahre in Paris, sehr luxuriös, aber mein Vater war ein überzeugter Kommunist, der aufrichtig an die Vorzüge des sowjetischen Systems gegenüber dem Kapitalismus glaubte. - Diesmal wollte ich einen Protagonisten erschaffen, der sozusagen eine Fiktion meiner eigenen Person ist. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, die Welt größer zu denken, mehr Ideen zu haben, nicht nur meine eigenen.

"Stalin ist in unseren Genen" mit diesem Satz wurden Sie vor kurzem zitiert. Und wie zu lesen und zu hören ist, gibt es tatsächlich im Russland von heute ein Stalin-Revival. Ist da tatsächlich so etwas wie eine Rehabilitierung im Gang?

Stalin ist eine Methode, Stalin ist eine Art, Macht zu haben und sie zu halten. Und deswegen ist es auch heute so: wenn einer Chef eines Unternehmens ist, also ein Ministerium, eine Institution oder einen Verlag führt, dann beginnt er sofort, ein kleiner Stalin zu sein. Er bringt seine Kollegen wahrscheinlich nicht um, aber er ist ziemlich brutal. Weil unter liberaler Führung würden alle aufhören zu arbeiten. Niemand weiß, wie man dieses System verändern kann. Ich frage mich also, ob das nicht in unseren Genen liegt.

Die diesjährige Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt auch darüber, in ihrem jüngsten Buch über den Sowjetmenschen. Glauben Sie auch, dass der Sowjetmensch noch immer existiert?

Nein, nein. Es gibt zwar gewisse Orte in der früheren Sowjetunion, wo man noch immer Sowjet-Menschen findet. Wenn ich zum Beispiel in die Ukraine fahre, auf die Krim - es ist sehr seltsam, die alten Menschen dort reden noch immer so wie die Sowjets, leben wie sie und essen wie sie. Sie haben begrenzte Möglichkeiten, um zu reisen, kein Geld und so weiter. Natürlich, wenn wir von Macht, Stalinismus und Stalin sprechen, können wir natürlich sagen, dass es noch immer Verbindungen zur Sowjetunion gibt. Aber in Moskau: Nein. Da ist eine neue Zivilisation, sehr weit von der Sowjetunion. Moskau ist heute wie New York. Mit all den großen Veränderungen. Ich glaube, dass man in Europa noch immer glaubt, dass Russland die neue Sowjetunion ist - nein, das ist nicht. Es ist ein Land, das letztlich der europäischen Union sehr nahe gekommen ist. Mit einer neuen Generation, dieser produktiven, kreativen Mittelklasse, die gerne nach Europa reist und im Winter nach Österreich. Schon bald, in höchstens 20 Jahren sind wir sehr, sehr nahe.

Aber bei uns sagt man: St. Petersburg und Moskau - das ist nicht Russland.

Russland folgt zwei Metropolen, Petersburg und vor allem Moskau. Was jetzt in Moskau in Mode ist, kommt in 3 oder 5 Jahren in die Provinzen. Auch in Bezug auf die Politik sind die Menschen in der Provinz nicht sehr weit entwickelt. Moskau ist gewissermaßen noch immer wie ein Leuchtturm, der ihnen zeigt, wohin sie gehen sollen.

Zurück zu den "Akimuden". In dem Roman tritt auch ein russischer Staatschef auf, einer der durchaus an Putin erinnert.

Wir haben den ewigen Putin als Herrscher des Landes, das heißt jemanden, der für immer im Amt bleibt und nicht mehr abtreten wird, weil er es genießt, der Herrscher zu sein. In den Akimuden ist er eine symbolische Figur, er weiß, um Russland ewig zu regieren, muss man hart durchgreifen. Gleichzeitig ist er gegenüber der Bevölkerung sehr misstrauisch, er denkt, dass die Menschen nicht gerne arbeiten und nicht ehrlich sind, sie lügen, sind korrupt und so weiter. In dem Roman kommt das Übel von verschiedenen Seiten: Von oben, weil dieser Mann wird nichts Gutes für Russland tut; und von unten, weil die Bevölkerung vom System völlig korrumpiert ist. In einem gewissen Sinn ist das Buch eine politische Satire, und es gibt viele Aspekte von Putin in dieser Figur. In Russland ist der Präsident auch heute noch wie ein Zar, er kann tun, was immer er will und jeder wird applaudieren. Er duldet um sich nur Jasager.

Sie haben vor kurzem Putin kritisiert, er sei ein schwankender Präsident mit schwachem Selbstbewusstsein und schlecht erzogen, haben Sie nicht Angst, dass Sie Probleme kriegen?

Probleme. Hm. Das ist schwer zu sagen, wahrscheinlich bin ich derzeit für Putin nicht der Hauptfeind, er hat genug zu tun mit der Opposition, die offen agiert. Bereits vor einigen Jahren hatte ich Schwierigkeiten mit meinem Buch "Enzyklopädie der Russischen Seele", weil gesagt wurde, dass es ein Buch gegen die Russen ist, was natürlich totaler Unsinn ist. Aber sie können erfinden, was sie wollen, sie könnten beispielsweise sagen "Die Akimuden", das ist wieder gegen Russland und deswegen bist du unser Feind und gehst ins Gefängnis - oder so ähnlich. Wenn Sie so offen über Dinge schreiben, sind Sie nicht sehr geschützt.

Russland ist seit Monaten ständig in den Schlagzeilen wegen Menschenrechtsverletzungen nach dem Aufsehen erregenden Prozess um Pussy Riot und nicht zu vergessen Michail Chodorkowski, der seit zehn Jahren in Haft ist.

Nun, wissen Sie, nach dem Kommunismus, nach dem Stalinismus und nach Breschnjew kommt uns das nicht so schlimm vor. Unter Stalin wurden Millionen von Menschen ohne Grund ermordet. Wir hatten nie eine Demokratie oder liberale Werte in Russland, niemals. Und jetzt haben wir immerhin schon eine organisierte Opposition. Und wenn jetzt Chodorkowski aus dem Gefängnis seine Meinung äußern kann und Nadeschda Tolokonnikowa, die Pussy-Riot Musikerin, immerhin in einem Brief die schreckliche Situation im Lager schildern kann, dann muss man sagen: das war davor nicht möglich, mit dieser Person wäre alles vorbei gewesen. - Wir sehen hier den Kampf zwischen zwei Russlands, das eine ist das autoritäre Russland, das Russland von Putin, und es gibt es ein neues, aufstrebendes Russland, jene die sich engagieren gegen diese Einheit aus der konservativen Kirche und dem korrupten Staat. Das ist der wahre Konflikt.

Was sagen Sie zu den Olympia-Boykott-Aufrufen der Opposition? In ihrem Roman wird Sotschi ja von der russischen Luftwaffe bombardiert.

Sotschi ist ein Mythos einer offenen Gesellschaft. Zunächst war es sehr kostspielig, wir haben so viel Geld reingesteckt, Geld, das eigentlich der Bevölkerung weggenommen wurde. Weil wir haben ein sehr schlechtes medizinisches System, ein sehr schlechtes Bildungssystem, sehr schlechte Straßen und so weiter. Die Olympischen Spiele zu veranstalten, ist wie eine Art Potemkinsches Dorf. Ich kann Sotschi nicht als Symbol eines freien und erfolgreichen Russland akzeptieren, aber ich akzeptiere die Olympischen Spiele als sportlichen Wettkampf.

Die Boykott-Aufrufe für die Olympischen Winterspiele im Februar sind ja vor allem laut geworden, nachdem Putin das umstrittene Anti-Homosexuellen-Gesetz unterzeichnet hat.

Der Staat ist nervös, weil Homosexualität jetzt eine Rolle zu spielen beginnt: Es werden Paraden und Demonstrationen gefordert, sie wollen sich organisieren, und so weiter. Im Kommunismus musste man, wenn man homosexuell war, fünf Jahre lang ins Gefängnis. Aus der Geschichte Russlands heraus betrachtet ist die Situation also nicht so schlimm. Wenn man es aus westlicher Perspektive betrachtet ist das natürlich eine furchtbare Situation. Wir sind, sagen wir so, sehr jung in unseren demokratischen Wünschen. Gleichzeitig sage ich ihnen aber auch: Ich habe die freie Wahl, ich könnte in Moskau oder in Paris leben. Aber ich verbringe mehr Zeit in Moskau als in Paris, denn Moskau ist viel interessanter für die Literatur. Um mit dem autoritären System zu kämpfen, ist es nicht notwendig, auch mit Russland zu kämpfen. Ich habe das zuletzt auch in der New York Times geschrieben: "Russland hat aufgehört, sich nur mit Putin zu beschäftigen. Es beschäftigt sich mit der Suche nach seiner Zukunft." Das ist der zentrale Punkt. Bei den Präsidentschaftswahlen haben ja mehr als die Hälfte der Einwohner von Moskaus gegen Putin gestimmt. Stellen Sie sich vor, Putin sitzt im Kreml und draußen, außerhalb des Kremls mag man ihn nicht. Das ist eine sehr spezielle Situation.

D.h. Sie glauben, dass es den allmächtigen Präsident nicht mehr gibt?

Nein, nein, natürlich ist er mächtig. Er hat seine Armee, er hat seine Geheimpolizei und so weiter.

Aber glauben Sie, dass Putin nach wie vor alle führenden Positionen fest im Griff hat?

Nun, ja und nein. Ich glaube, dass er Russland natürlich noch immer unter Kontrolle hat. Aber andererseits: er hat keine ideologische Basis. Putin ist nicht liberal, er ist nicht demokratisch und er ist auch nicht kommunistisch. Wir suchen nach einer Basis, aber wir haben keine. Ich denke, Putin ist der große Chef, aber er ist das ohne Ideologie. Die Frage ist, wie das weitergeht. Derzeit wendet sich Putin weiter von europäischen Werten ab und strebt eine neue Utopie an: eine orthodoxe Zivilisation, die Vereinigung von Staat und Kirche. Ich lehne das ganz und gar ab.

"Die Revolution" heißt das letzte Kapitel im Roman - eine Zukunftsvision? Eine Option?

Es ist eine Option, ja. Ich bin kein großer Revolutionär und ich glaube, dass es besser ist, wie in Polen Gespräche zu führen, und auf friedliche Weise zu gewinnen. Aber wenn sich der Generationenwechsel so zäh vollzieht, dann gibt es natürlich Revolution. Ich glaube, unsere Zukunft ist offen, es könnte eine revolutionäre Zukunft sein, es könnte eine Zukunft sein, die sich durch politische Debatten entwickelt oder es könnte einfach eine sehr schlechte Zukunft mit Stagnation und Krise sein. Wir sollten alle, also Russland und Europa, versuchen eine bessere Zukunft für Russland suchen. Weil Russland ist wichtig für Europa und wichtig für die Welt. Und Europa und die Welt sind wichtig für Russland. Ich möchte, dass Russland europäisch wird, dass Russland frei ist, ehrlich und stark. Und ich glaube, dass das eines Tages passieren wird. Aber sicherlich nur, wenn das friedlich abläuft.

Service

Viktor Jerofejew "Die Akimuden", in der Übersetzung von Beate Rausch, Hanser Verlag Berlin