ORF Radio-Symphonieorchester Wien

JULIA WESELY

Das Ö1 Konzert

Orchestermusik nach dem Ersten Weltkrieg

Das RSO Wien mit Strawinsky und Korngold.

Auch nach dem Ende des Spuks blieben die Narben des Ersten Weltkriegs in der Musik sichtbar. Die Neue Musik der 1920er Jahre verabscheute die hochgezüchtete Emotionalität, die Ichbezogenheit und die Großmannssucht der Vorkriegsjahre. Als Gegengift entwickelten die Komponisten eine Tonsprache, der es mehr um Musik ging als um Meinung, mehr um Tanz als um Tremolo, mehr um Gelächter als um Gewalt. In Berlin sangen Hindemith und Weill diese neue Weise, in Paris die Groupe des Six und Igor Strawinsky.

Strawinsky und Pulcinella

Mit Pulcinella verliebte sich Strawinsky 1920 in den Neoklassizismus. Auftraggeber war einmal mehr der legendäre Impresario der Ballets Russes, Sergej Diaghilew, für den Strawinsky schon die Welterfolge Le sacre du printemps, Der Feuervogel und Der Kuss der Fee geschrieben hatte.

Für sein neues Ballett wünschte sich Diaghilew eine Bearbeitung der Musik des italienischen Barockkomponisten Pergolesi. Strawinsky fand hier, was er insgeheim gesucht hatte: eine Musik, die sich nicht dramatisch entwickelt, die nicht Gefühle ausdrückt, sondern Gesten darstellt. Er zerschnitt das Original, fügte die Einzelteile neu zusammen, verschärfte Harmonien und Instrumentation und schuf so eine Musik, die der Gegenwart verpflichtet und von Vergangenheit durchsetzt ist. Damit entsprach er der Idee von Diaghilews Ballett unmittelbar, denn auch in den stereotypen Liebeswirren der Commedia dell’arte spielen Emotionen keine Rolle - entscheidend ist eine unterhaltsame und treffende Charakterisierung der Typen.

Wittgenstein beauftragt Klavierkonzerte für die linke Hand

Zur selben Zeit hatte in Wien Paul Wittgenstein - der ältere Bruder des Philosophen Ludwig - mit ganz anderen und sehr konkreten Folgen des Ersten Weltkriegs zu kämpfen. Der erfolgreiche Pianist war an die Front nach Polen geschickt und dort so schwer verwundet worden, dass ihm in der russischen Gefangenschaft der rechte Arm amputiert werden musste.

Da Wittgenstein nicht daran dachte, seine Karriere zu beenden, gab er nach dem Krieg Klavierkonzerte für die linke Hand in Auftrag. Die Liste liest sich wie ein Who’s who der modernen Musik: Maurice Ravel befindet sich unter den Auftragnehmern, Paul Hindemith, Sergej Prokofjew, Richard Strauss - und Erich Wolfgang Korngold.

Korngold: Konzert für Klavier für linke Hand und Orchester

Wolfgang Korngold hatte als Wunderkind begonnen. Die Ballettpantomime Der Schneemann des 13-Jährigen war an der Wiener Hofoper uraufgeführt worden (okay, die Instrumentierung stammte von Zemlinsky), und während Strawinsky Pulcinella schrieb, machte Korngolds Oper Die tote Stadt Furore.

Vier Jahre später war Wittgenstein mit dem für ihn geschriebenen Klavierkonzert derart einverstanden, dass er (anders als bei anderen) keinerlei Änderung verlangte und später sogar mit einem Auftrag für ein Klavierquintett nachsetzte. Das Werk wurde 1924 in Wien mit dem Auftraggeber am Flügel und dem Komponisten am Dirigentenpult uraufgeführt und ist ein expressives, für seine Zeit ausgesprochen modernes Werk, das Korngolds spätere Rolle als Erneuerer der Filmmusik Hollywoods vergessen macht.

Das RSO Wien spielt Strawinsky und Korngold

Der aus Moskau stammende Dirigent Dima Slobodeniouk kombiniert Strawinsky und Korngold in einem Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien, das ursprünglich deutlich größer dimensioniert war und aus pandemischen Gründen reduziert wurde, ohne seinen Charakter einzubüßen.

Am Ende des Abends betritt die Wiener Singakademie die Bühne, die - wie alle Chöre - besonders stark unter den Einschränkungen des vergangenen Jahres zu leiden hatte. Vielleicht hört man unter diesen Umständen des kurze Te Deum aus der Feder Joseph Haydns mit besonderer Dankbarkeit, in der Hoffnung, dass wir die dunklen Coronamonate hinter uns lassen können.

Gestaltung: Christoph Becher, Intendant des RSO Wien