Marcel Proust

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Marcel Proust zum 150. Geburtstag

Sie sind das berühmteste Feingebäck der Weltliteratur: die Madeleines. Das Eintauchen des muschelförmigen Gebäcks in den Tee versetzt den Icherzähler in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" in die lang zurückliegende Vergangenheit seiner Kindheit.

Sie sind aber auch Sinnbild der Proust’schen Erinnerungspoetik, der zufolge nur die "Mémoire involontaire", die unbewusste, zufällige Erinnerung imstande sei, ein authentisches Bild der Vergangenheit zu evozieren. Das bewusste intellektuelle Erinnern, so räsoniert der Icherzähler, kann das Wesen der Vergangenheit nicht erfassen. Die "Mémoire volontaire", die Erinnerung durch eine Willensanstrengung hervorzurufen, ist zum Scheitern verurteilt und kann nur blasse Farbtöne als Bilder der Vergangenheit hervorbringen.

In diesem Sinne gilt Marcel Prousts Hauptwerk als singuläre Leistung menschlicher Vorstellungs- und Erinnerungskraft. In dem 4.000 Seiten dicken Werk beschreibt Proust das Leben der großbürgerlichen und adeligen Gesellschaft der sogenannten Belle Époque im Frankreich vor und nach 1900. Der Icherzähler erinnert sich an seine Kindheit, seine erste Geliebte und die snobistische Welt der Aristokratie des vornehmen Viertels Faubourg Saint-Germain in Paris, von der er gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen ist. Seine Trägheit und schwache Gesundheit hindern den Icherzähler daran, sich seinen Traum vom Schriftsteller-Dasein zu erfüllen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen Niedergang der adeligen Welt findet der Icherzähler die Kraft, sein Werk zu beginnen.

War früher alles besser?

Marcel Prousts "Recherche" gilt zu Recht als Hauptwerk der modernen französischen Literatur, das über weite Strecken auch eine Reflexion über das menschliche Erinnerungsvermögen an sich darstellt. Sich an Proust zu erinnern heißt auch, sich an das Erinnern zu erinnern und darüber nachzudenken: Was passiert im menschlichen Gehirn, wenn wir uns erinnern? Und was ist, mit Nietzsche gesprochen, der "Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben"? Wie funktioniert der Zusammenhang zwischen Erinnern und Vergessen, und warum neigt das menschliche Erinnerungsvermögen oft dazu, die Vergangenheit zu verklären?

Der "Recherche du temps perdu" wurden immer wieder Nostalgie, Snobismus und Verklärung der Vergangenheit vorgeworfen. Das verklärende Erinnern des "Früher war alles besser" steht jedoch ganz im Gegensatz zur Proust’schen Erinnerungspoetik: Während die Spießermoral die Erinnerung an die Vergangenheit instrumentalisiert, um andere, vor allem die junge Generation, abzuwerten, ging es Proust gerade um den Verzicht auf die Macht des Intellekts. Wie wirkungsmächtig und verhängnisvoll das politisch instrumentalisierte Erinnern sein kann, zeigen auch immer wieder heftige Auseinandersetzungen um Akte des Erinnerns im öffentlichen Raum. Jüngstes Beispiel ist das Wiederaufflammen der Gewalt in Jerusalem, nachdem Israel im Mai dieses Jahres der Annexion des Ostteils der Stadt 1967 gedacht hatte.

Ein subjektiver Akt der Kreation

Der letzte Teil des siebenteiligen Werks von Marcel Proust heißt denn auch programmatisch: "Die wiedergefundene Zeit". Darin findet der Icherzähler die ihm gemäße Form menschlicher Erinnerung. Ohne zu suchen, schlagen wir zufällig eine vertraute Stelle im Buch unseres Gedächtnisses auf. Die Lektüre dieses "livre intérieur" ist ein subjektiver Akt der Kreation ohne den verhängnisvollen Anspruch auf objektive Wahrheit: Dichten heißt Lesen im Buch der Erinnerung.

Text: Johannes Gelich