First Cow, Filmstill

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Neu im Kino

"First Cow" von Kelly Reichardt

Kelly Reichardt ist eine der zentralen weiblichen Stimmen im US-amerikanischen Independent Kino der Gegenwart. In ihren Filmen holt sie jene Menschen in die Mitte der Handlung, die sonst meist nur marginalisiert als Nebenfiguren einen Platz haben, wie in ihrem Öko-Thriller "Night Moves" oder dem Episodenfilm "Certain Women".

Die Auseinandersetzung mit Mythen und Genrekonventionen geht bei Reichardt dabei meist mit einem Perspektivwechsel einher. So auch in ihrem jüngsten "First Cow", rund um eine Männerfreundschaft im Wilden Westen.

Die Geschichte unter unseren Füßen

Selten lag im Kino die Geschichte eines Ortes so nah an der Oberfläche begraben, wie in den Anfangsminuten von "First Cow". Im Oregon der Gegenwart findet eine Frau bei einem Waldspaziergang mit ihrem Hund zwei männliche Skelette: nah beieinander liegend, die Hände fast umschlungen. In der nächsten Einstellung sammelt eine dieser Hände in abgenutzten Wollhandschuhen Pilze.

Von der Gegenwart wechselt die Handlung in das frühe 19. Jahrhundert zu Cookie, der als Koch mit osteuropäischen Wurzeln in einer Gruppe von Pelzjägern einen schweren Stand hat. Und dieser Außenseiter trifft eines Nachts auf einen zweiten Einwanderer, der so gar nicht in das klassische Bild des weißen Westernhelden passen will: einen nackten Chinesen, der vor russischen Jägern flieht.

Männerfreundschaft im wilden Westen

An den Filmanfang stellt Kelly Reichardt ein Zitat des englischen Dichters William Blake:

Dem Vogel ein Nest,
der Spinne ein Netz,
dem Menschen Freundschaft.

Und man könnte auch einfach sagen, dass "First Cow" ein Film über Freundschaft und eine Kuh sei, scherzt die Regisseurin. Aber dahinter verbirgt sich wesentlich mehr: "Es ist eine Einwanderergeschichte. Zwei Außenseiter, die sich mit den Gegebenheiten zurechtfinden müssen. In meinen Filmen geht es immer wieder um Freundschaft. Und um Gemeinschaften, in denen die Einzelnen erst ihren Platz finden müssen. Hier sind bestimmte gesellschaftliche Standards schon festgelegt, andere müssen erst definiert werden. In dieser Zeit liegen die Wurzeln des modernen Handels und auch des amerikanischen Traums, dass sich in diesem Land jeder verwirklichen kann, wenn er nur gute Ideen und Einfallsreichtum hat."

Die titelgebende erste Kuh in dieser Region des noch wilden Westens kommt nach rund 25 Filmminuten per Schiff an. Ein englischer Grundbesitzer, mit dem auch gesellschaftliche Hierarchien in die Wildnis eingezogen werden, will Milch für seinen Tee. Ein bisschen kulinarische Finesse abseits der Zivilisation.

Fünf Felle für eine Gabel

Cookie und King-Lu beginnen nachts heimlich die Kuh zu melken, die Milch zu stehlen und damit kleine Küchlein zu backen, die zum Verkaufsschlager auf dem Markt werden: der Geschmack der alten Heimat und ein Bissen Vertrautheit für die Männer in ihren schweren Pelzumhängen.

Es ist ein geduldiges Erzählen und Beobachten, gefilmt auf analogem Material und in einem fast quadratischen Bildformat, mit dem Reichardt ihr Publikum in den unspektakulären Alltag hinter den Mythen des Wilden Westens hineinholt. Hier fällt kaum ein Schuss und es gibt keine Ritte in den Sonnenuntergang. Statt von Gold träumt Cookie von einem Hotel, einer Bäckerei und wärmerem Wetter. Der Fiedler muss das Fiedeln erst lernen, und glänzende Cowboystiefel sind selten.

Kleine alltägliche Dinge sind hier ein großer Luxus. Fünf Biberfelle kostet eine kaputte Gabel, zwei Silberstücke ein Whiskey. Und Reichardt stellt die beiden Männer, die Jagen und Sammeln, um zu überleben, dem sich etablierenden Handel und der damit einhergehenden Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und indigener Bevölkerung gegenüber. "Die Geschichte muss an diesem Ort erst geschrieben werden", sagt King-Lu.

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Abseits der ausgetretenen Westernpfade

Kelly Reichardt schreibt die Westerngeschichte mit "First Cow" zwar nicht um, aber sie hinterfragt Rollenbilder, wechselt Rhythmus, Perspektive und Fokus: "Viele Spuren in der Kinogeschichte sind schon von den Filmen weißer Männer vorgegeben. Aber wie kaum in einem anderen Genre haben sich im Western die Mythen und Rollenbilder so weit von der historischen Realität entfernt und sind zugleich so verfestigt: Es gab damals mehr als nur den weißen Cowboy, der Indianer erschießt. Heute reicht es, die Kameraposition zu verändern, und das sagt dann schon etwas über die Erzählhaltung aus, weil unser Blick auf diese Zeit von einer ganz spezifischen Bildsprache und von genau festgelegten Codes geprägt ist."

Am Ende klingen die humorvollen Momente in dieser Tragödie nach, und statt des Geruchs eines rauchenden Colts in der Nase, bleibt der Geschmack eines kleinen Ölgebäcks auf einem Stein im Schlamm auf einem Markt irgendwo in Oregon Anfang des 19. Jahrhunderts.

Der Film basiert auf dem Roman "The Hal-Life" von Jonathan Raymond, der gemeinsam mit Reichardt auch das Drehbuch geschrieben hat. Die beiden haben schon bei "Old Joy" und "Wendy and Lucy" zusammengearbeitet.

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