Menschenbilder

Irena Veisaitė - Ein Jahrhundertleben

Über die Holocaust-Überlebende und Theaterwissenschafterin Irena Veisaitė

Litauens Geschichte im 20. Jahrhundert ist dramatisch: Nach langer zwangsweiser Zugehörigkeit zum Russischen Reich erreichte es 1918 seine Eigenstaatlichkeit, doch ab 1940 war es infolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion okkupiert, von 1941 bis 1944 dann von Nazideutschland besetzt; nur fünf Prozent der litauischen Juden haben das überlebt. Eine dieser Überlebenden war Irena Veisaitė. Sie floh aus dem Ghetto von Kaunas und konnte in einer litauischen Familie unter einer neuen Identität weiterleben.

"Ich werde so lange eine Jüdin sein, wie es auf der Welt auch nur einen einzigen Antisemiten gibt." Irena Veisaitė

2002 sprach ich für den "Nebenan"-Schwerpunkt Litauen von Ö1 erstmals mit Irena Veisaitė; sie bezweifelte, dass sich die litauische und die jüdische Bevölkerung über die Interpretation dieser Vergangenheit einigen könnten. Dass sie das später durchaus für möglich halten konnte, ist auch ihrer eigenen Arbeit zuzuschreiben: Als Zeitzeugin erzählte sie von ihrem Überleben, als Intellektuelle analysierte sie die Ursachen der unterschiedlichen Sichtweisen, und als Mitbegründerin der Soros-Stiftung in Litauen arbeitete sie für eine offene Gesellschaft.

Professur dank Unabhängigkeit

Als es 2009 wieder einen Schwerpunkt zu Litauen gab, wusste ich sofort, dass ich ein "Menschenbild" mit Irena machen wollte, denn in ihrem Leben spiegelte sich das 20. Jahrhundert in Litauen. In ihrem Wohnzimmer, zwischen litauischen, deutschen, russischen und englischen Büchern und dunklen alten Möbeln, zwischen Bildern und Fotos, erzählte sie in ihrem wunderbaren Deutsch davon. Dass sie mit Arvo Pärt eng befreundet war und er sein berühmtes Stück "Für Alina" für ihre Tochter komponierte, hätte mir Irena nicht verraten; weil ich das wusste, haben wir es in der Sendung anklingen lassen. Die Freundschaft kam durch ihren zweiten Mann, den estnischen Film- und Theaterregisseur Grigori Kromanov, zustande.

Als Litauen 1990 seine Unabhängigkeit erklärte, war Veisaitė bereits 62; erst jetzt konnte sie Professorin werden. In Litauen, in Deutschland, aber auch bei der Buchmesse in Jerusalem sprach sie immer wieder vom Holocaust in Litauen - und von der Schwierigkeit vieler Litauer/innen, die Tatsachen anzuerkennen. Litauen musste sich mit zwei Diktaturen auseinandersetzen und hatte ein ähnliches Problem abzuarbeiten wie Österreich: dass der Staat als Ganzes zwar Opfer war, viele Einzelne aber zu Täter/innen wurden.

Tatsachen nicht leugnen

Irena Veisaitė dachte in internationalen Zusammenhängen und wurde international ausgezeichnet, u. a. 2012 mit der Goethe-Medaille in Weimar und 2020 mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Als Holocaust-Überlebende plädierte sie für Vergebung - unter der Voraussetzung, dass die Tatsachen nicht geleugnet werden. In dem 2019 erschienenen Buch "Ein Jahrhundertleben in Litauen" erklärte sie: "Ich werde so lange eine Jüdin sein, wie es auf der Welt auch nur einen einzigen Antisemiten gibt."