Siedlung Siemensstraße, Schrägluftaufnahme, 1956

Wiener Stadt- und Landesarchiv

Buch | Ausstellung

70 Jahre Siedlung Siemensstraße

Die Siedlung Siemensstraße in Wien-Floridsdorf war - mit etwa 1.700 Wohnungen - der größte kommunale Wohnbau der Nachkriegszeit. Ein neues Buch dokumentiert "Wohngeschichten aus den 1950er und 60er Jahren", parallel zu einer Ausstellung des Wien Museums in einer Originalwohnung.

"Im Zimmer haben wir ein Klappbett geklappt, mit dem Kopf bin ich zwischen den Kästen gelegen", erinnert sich Christine Strobach ans Aufwachsen in der Siedlung Siemensstraße. Errichtet wurde sie im Zuge des von der Stadt beschlossenen "Sozialen Schnellbauprogramms" um die immense Wohnungsnot in Wien zu lindern. 85.000 Wohnungen waren im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, und von der Wohnungslosigkeit waren 300.000 Menschen betroffen.

Frau mit zwei Jugendlichen am  Küchentisch

PRIVAT

In der Küche, um 1960

Christine Strobach zog 1951 als Dreijährige in eine der äußerst kleinen Wohnungen in der Siemensstraße ein. "Wenn man in das Zimmer hineingeht, ist vis-à-vis von der Tür das dreiteilige Fenster, rechts davon die Eckbank mit dem Esstisch. Gegenüber das Ausklappbett meiner Eltern. Und links davon war dann schon der Kastenverbau, mein Bett. Das ist der Länge nach aus dem Kasten herausgeklappt und war hinter einem Vorhang. Ja, und das war das ganze Zimmer." Die ganze Wohnung, eigentlich.

Wohnen auf wenigen Quadratmetern

Duplex-Wohnung heißt dieser Typus Kleinst-Wohnung, erklärt die Historikerin und Kuratorin am Wien Museum, Susanne Winkler: "Das ist ein sehr einfaches Konzept: Man ist von einer normalen Wohnung mit circa 55 bis 60 Quadratmetern ausgegangen, hat aber diese Wohnungen in zwei kleine Wohnungen geteilt, also nur mit Küche und Wohn-Schlafzimmer. Badezimmer hat es - zu der Zeit üblich - noch keine gegeben. Aber man ist davon ausgegangen, dass sobald die größte Wohnungsnot gelindert worden ist, man diese Wohnungen zusammenlegen kann und ohne großen technischen Aufwand ein Bad einbauen kann, sodass aus der zweiten Küche ein Bad wird und aus der zweiten Toilette eine Abstellkammer."

Umgesetzt wurde dieser Umbau jedoch kaum - zu selten kam vor, dass eine Wohnung frei wurde und zusammengelegt werden konnte. So wurde auf 36 Quadratmetern mit viel Geschick und Improvisationswillen das Leben von mehrköpfigen Familien arrangiert.

Konsumfiliale in der Ladenzeile Scottgasse, 1956. Aus: Stadtbauamt der Stadt Wien (Hg.): Der soziale Wohnungsbau der Stadt Wien, Wien 1956, S. 135

Wien Museum

Gedacht waren die Wohnungen vor allem für Flüchtlinge, für Bedürftige und für junge Paare, die die Familiengründung außerhalb des Elternhauses bevorzugten. Wer es sich leisten konnte, baute sich eine Capri-Brausekabine ein - die anderen gingen unterdessen weiterhin ins Tröpferlbad. Der Bewohner Leo Marek erinnert sich an lange Schlangen vor dem Tröpferlbad, insbesondere an Freitagen und Samstagen. Bezahlt wurde das Duschvergnügen nach Minuten.

Haus mit heller Fassade in einem begrünten Hof

SUSANNE WINKLER

Siedlung Siemensstraße, Scottgasse 5, Stiege 107/1

Eine Ausstellung zum 70-jährigen Bestehen

1951 in der Siedlung geboren, gehört Leo Marek dem Mieterbeirat an, der gemeinsam mit den Wohnpartnern, einer Organisation für die gute Nachbarschaft, an das Wien Museum herangetreten ist - mit dem Vorschlag, der historisch bedeutenden Siedlung eine Ausstellung zu widmen. In einem Gesprächskreis tauschten Bewohnerinnen und Bewohner Erinnerungen an die Pionierzeit aus und sammelten mögliche Ausstellungsobjekte.

"Für unser Museum ist das ein Paradefall", meint Susanne Winkler, "dass wir den Leuten mit diesem Gesprächskreis ein Stück ihrer eigenen Geschichte näherbringen können: die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit dem eigenen Ort und auch das Bewusstsein, dass dieser Ort ein wichtiger Teil der Geschichte ist."

Lesendes Medchen vor der heutigen VHS

Karl Nieschlag: Lesendes Mädchen (1957) vor dem ehemaligen Volksheim (heute VHS)

SUSANNE WINKLER

Die Ausstellung ist in einer originalen Duplex-Wohnung in der Scottgasse 5 zu sehen. Gezeigt werden da unter anderem Möbel aus den 1950er Jahren, das Puppenbad von Christine Strobach und Fotos, die aus den Familienalben zur Verfügung gestellt wurden. Viele Fotos wurden von Karl Bachmaier gemacht, einem ÖBB-Bediensteten, den Susanne Winkler als Freigeist und Weltreisenden beschreibt. Er habe viel innerhalb der Siedlung gefilmt und fotografiert, in den Höfen und im Freibad.

Junge auf einem Fahrrad

PRIVAT

In der Siedlung, um 1960

Seine Tochter Christine Strobach bezeichnet sich - und die vielen anderen Kinder - als Hofkinder. In den großzügigen Grünanlagen zwischen Häusern haben sie gespielt, gepritschelt und auf der Klopfstange geturnt. "Im Volksheim hat es ein Kino gegeben, auch Kinderfilme. Die Roten Falken waren im Volksheim hinten, da wo die Sektion und die Pensionisten waren. Da haben die schon auf uns geschaut, also wir waren laufend beschäftigt."

Die "Neue Nachbarschaft"

"Die Siedlungen sollen ein in sich geschlossenes Gemeinwesen sein, mit einem relativen Eigenleben, also einer starken Infrastruktur: Es gibt Kindergärten, es gibt Kinderfreibäder, es gibt Ladenzeilen mit Geschäften, mit Werkstätten. Es gibt ein Zentrum, ein Volksheim, was heute die Volkshochschule ist. Das besonderste ist die Heimstätte für alte Menschen. Und das war die 'Neue Nachbarschaft'", erklärt die Kuratorin Susanne Winkler das Ansinnen des Sozialen Schnellbauprogramms, möglichst vielen Menschen in kürzester Zeit zu einem auf Gemeinschaft basierenden Wohnraum zu verhelfen.

Heimstätte für alte Menschen in der Siedlung Siemensstraße, um 1955

Heimstätte für alte Menschen in der Siedlung Siemensstraße, um 1955. Aus: Stadtbaudirektion Wien: Heimstätten für alte Menschen, Wien 1961.

Wien Museum

"Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren" ist im Mandelbaum Verlag erschienen.

Entwickelt wurde dieses Programm vom Architekten Franz Schuster, der auch die Planung der Siedlung Siemensstraße innehatte. Schuster sei ein wichtiger Architekt des Roten Wien gewesen, der in Vergessenheit geraten ist - wohl auch wegen seiner NS-Geschichte.

"Er war ein wichtiger Architekt, weil er praktisch über fünf Jahrzehnte gebaut hat und auch sehr qualitätvoll gebaut hat. Das ist unbestritten. Er hat im Roten Wien gebaut, er war in Frankfurt bei Ernst May. Er hat sich mit dem Siedlungswesen auseinandergesetzt, mit der Gartenstadt, hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch gebaut. Problematisch ist er insofern, weil er sehr willfährig mit dem Nazi-Regime umgegangen ist. Das wurde danach totgeschwiegen, weil man ihn gebraucht hat, und so ist seine Karriere noch weitergegangen, und er hat seine Professorenstelle behalten", so Susanne Winkler.

Von "Alteingesessen" bis "Zündapp"

Die Umstände der Errichtung der Siedlung Siemensstraße hat die Kuratorin - gemeinsam mit Werner Michael Schwarz vom Wien Museum und den Historikern Wolfgang Fichna und Georg Vasold - aufgearbeitet und in einem im Mandelbaum Verlag erschienenen Buch publiziert. Den Kern von "Wohngeschichten aus den 1950er und 60er Jahren" bilden die nach alphabetischen Stichworten arrangierten Anekdoten der ersten Bewohnerinnen und Bewohner: mit Begriffen wie "Ausgebombt", "Beatles", "Extrawurst", "Heimarbeit", "Schlüsselkind" und "Schöner Arsch" wird ein lebendiges Bild des Lebens in der Siemensstraße in Floridsdorf gezeichnet.

Friseur in der Berzeliusgasse, 1950er-Jahre

Friseur in der Berzeliusgasse, 1950er-Jahre

Privat

Service

"Wohngeschichten aus den 1950er/60er Jahren", Mandelbaum Verlag

Wien Museum - Terra Nova. 70 Jahre Siedlung Siemensstraße in Floridsdorf
Eine Ausstellung zum sozialen Wohn- und Städtebau in Wien nach 1945 - jeden Freitag von 12 bis 18 Uhr

Wohnpartner Wien - Zeitzeug/innen-Projekt zur Siedlung Siemensstraße

Gestaltung

  • Anna Soucek

Übersicht