Dortmunds Oberbuergermeister übergibt 1971 Ilse Aichinger den Nelly-Sachs Preis

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Schwerpunkt

Ilse Aichinger wäre 100

Misstrauen, genau hinsehen, staunen - Ö1 Literaturschwerpunkt zum 100. Geburtstag von Ilse Aichinger (1921-2016).

Der Roman "Die größere Hoffnung" (1948) und die im Jahr darauf erschienene "Spiegelgeschichte" machten die am 1. November 1921 in Wien geborene Ilse Aichinger über die Grenzen Österreichs hinaus berühmt. Bereits 1946 schrieb sie in ihrer "Aufforderung zum Misstrauen": "Wir müssen uns selbst misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!" Damit benannte sie ein Grundprinzip ihres Lebens und Schreibens.

Das Misstrauen gegen den Staat begann bei mir früh

… lautete auch der erste Satz ihrer Rede, als sie 1995 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet wurde. Ilse Aichingers erste greifbare Erinnerung war, dass eine Greißlerin über den Ladentisch auf sie und ihre Zwillingsschwester zeigte, um ihren anderen Kunden zu sagen: "Das sind Juden." Lebenslang hat sie sich daran erinnert, wie ihre geliebte jüdische Großmutter 1942 mit einem Lastwagen abgeholt und dann in das Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk gebracht wurde.

Wider "harte Herzen und weiche Geister"

Nicht vergessen konnte sie auch den Beamten des Wiener Wohnungsamtes, der ihr und ihrer Mutter nach Kriegsende sagte: "Schlafen S' in der Hängematt'n!" und die Zuweisung eines Ersatzes für die von den Nazis enteignete Wohnung ablehnte. So konstatierte Aichinger später in einem Interview: "Ich selbst habe der Stadt Wien gegenüber wenig Toleranz, weil ich hier das Schlimmste gesehen habe."

Dennoch wurde sie mit dem Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet. In ihrer Preisrede kritisierte sie die Herrschaft der "harten Herzen und weichen Geister". Ihre Auffassung von Toleranz hat nichts mit der Vernebelungsrhetorik der "weichen Geister" zu tun, aber sehr viel mit dem genauen Blick auf Menschen und Dinge. "Genau hinsehen, was geschieht" - dieser Leitsatz ihrer autobiografischen Aufzeichnungen sagt aus, wozu Literatur fähig ist und fähig macht.

Bücher


Ilse Aichinger, "Die größere Hoffnung"
im Ö1 Archiv

Glasklare Sätze

In diesen Aufzeichnungen steht auch der Satz: "Jeden Tag die Verzweiflung neu erwerben, aus der der Mut kommt." Aichinger hatte immer einen klaren Blick auf das Leben und den Zustand der Welt, den sie sich nicht schönreden lassen wollte. "Ich kann getröstet nicht leben", schrieb sie und war skeptisch vor allem gegenüber religiösem Trost. Einmal findet sich bei ihr allerdings der gebetsförmige Satz: "Vater, ich habe Trost gesucht vor dem Himmel und vor Dir." Sie hat aber auch eine Erfahrung formuliert, die über das eigene Leben hinausweist: "Wenn ich mich freue, auf der Welt zu sein, freut sich etwas mit mir."

Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt

Aichingers glasklare Sätze erzeugen eine Aura des Geheimnisses. Und ihr misstrauischer Blick ist immer auch ein staunender. Der Beginn ihres Gedichts "Winterantwort" drückt aus, was ihr Schreiben in Gang setzt: "Die Welt ist aus dem Stoff, der Betrachtung verlangt." Ihre Texte kreisen nicht um das Individuum. So steht auch dieser Satz in ihren Aufzeichnungen: "Wir sind nicht gemeint. Gemeint ist, was an uns Licht gibt."

Die Auffassung der Autorin von Literatur war radikal: "Schreiben kann man wie beten eigentlich nur, anstatt sich umzubringen. Dann ist es das Leben selbst." Im Schreiben machte sie die Erfahrung der Einmaligkeit und Endlichkeit eines jeden Augenblicks, und daraus speisen sich ihre unvergesslichen Sätze. Für sie hieß das: "Schreiben ist sterben lernen - es ist alles zum letzten Mal. Wenn wir das einsehen würden, ginge uns die Liebe auf."

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