Ilse Aichinger

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Radio-Essays &

Briefe von Ilse Aichinger

Im Alter von 27 Jahren etablierte sich Ilse Aichinger 1948 mit ihrem semibiografischen Roman "Die größere Hoffnung" als wichtigste Autorin der Nachkriegsgeneration. Ihr Ruhm war anhaltend. Ihr 100. Geburtstag im November brachte einige Neuerscheinungen auf den Markt, darunter "Die Frühvollendeten", ein Band mit Radio-Essays, sowie der Briefwechsel zwischen Helga und Ilse Aichinger: "Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe".

"Du bist Du / Und ich bin ich – / Und doch sind wir ganz die Gleichen!" So beginnt ein Gedicht, das Ilse Aichinger vermutlich im Herbst 1939 an ihre Zwillingsschwester Helga nach London geschickt hat. Helga konnte am 4. Juli 1939 mit einem Kindertransport das von Nazi-Deutschland besetzte Österreich verlassen, Ilse blieb bei der Mutter, und der Beginn des Zweiten Weltkriegs machte alle Versuche der beiden, auch nach England zu gelangen, zunichte.

Du bist Du / Und ich bin ich - / Und doch sind wir ganz die Gleichen!

Der Briefwechsel zwischen Helga und Ilse Aichinger, "Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe" ist in der Edition Korrespondenzen erschienen

Über acht Jahre sollte es dauern, bis sich die Zwillingsschwestern und ihre Mutter Berta Aichinger am 8. Dezember 1947 in London wiedersehen konnten. In der Zeit dazwischen blieb nur der Briefwechsel, und zu Ilse Aichingers hundertstem Geburtstag wurde er in einer vorbildlichen Edition veröffentlicht.

Briefe an die Schwester

Vorbildlich ist die Edition nicht nur durch die hervorragende Wiedergabe zahlreicher Grußkarten, Fotos und Dokumente, sondern vor allem durch die Kommentare der Herausgeberin Nikola Herweg, die diese Briefe in Bezug setzen zu unveröffentlichten Tagebüchern, biografischen Fakten und literarischen Texten von Ilse Aichinger. So ist dieser Briefband der einzige "Ersatz" für die noch nicht geschriebene Biografie Ilse Aichingers und damit für jede Leserin, jeden Leser ihres Werkes unverzichtbar. Er gibt auch neue Einblicke in die Entstehung von Ilse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung", den sie 1947 vor ihrer Abreise nach London fertiggestellt hat.

… meine Sehnsucht ist ein helles Licht

Ein besonderes Verdienst das Buches ist es, dass auch unveröffentlichte literarische Versuche Ilse Aichingers aus dieser Zeit erstmals veröffentlicht werden. Zurecht weist Nikola Herweg dabei auf den fließenden Übergang von Tagebuch und literarischem Schreiben hin. "Wenn man das Schweigen lernen will - muss man sehr vorsichtig sein mit den Worten", notiert Ilse Aichinger am 1. Januar 1944 handschriftlich in eine schwarze Kladde. Mehrmals stößt man auf Formulierungen, in denen ihr späteres Werk schon im Kern enthalten zu sein scheint. Dasselbe gilt auch für einen fiktiven Brief, den Ilse Aichinger am 6. Dezember 1942 an ihre Zwillingsschwester schreibt: "Als wir auseinandergingen, wussten wir nicht voneinander, nun aber weiß ich um Dich, denn meine Sehnsucht ist ein helles Licht."

Maximal 25 Wörter

Dass es sich um einen fiktiven Brief handelt, der nicht abgeschickt werden konnte, liegt daran, dass während des Krieges zwischen dem Deutschen Reich, dem Österreich einverleibt war, und England nur Nachrichten von maximal 25 Wörtern über das Rote Kreuz ausgetauscht werden konnten. Das hat dazu geführt, dass Ilse Aichinger und ihre Mutter sogar die Namen naher Verwandter hinzufügten, die bereits deportiert und vermutlich nicht mehr am Leben waren, um Helga, die gerade ihre Tochter Ruth geboren hatte, nicht zu erschrecken.

Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe

Immer wieder leuchten die Briefe, Texte und Kommentare diese Bandes Situationen aus dem Leben von Ilse Aichinger und ihrer Mutter während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Wien und von ihrer Zwillingsschwester Helga in London aus - in einer Genauigkeit, in der man das bislang trotz aller Interviews mit und Texte über Ilse Aichinger nicht zu hören und zu lesen bekam. Und wer das Leben in der Emigration in London aus der eigenen Familiengeschichte kennt, darf hinzufügen: Dieser Band wirft auch ein paradigmatisches Licht auf die Situation vieler österreichischer Familien, die während des ganzen Krieges getrennt waren.

"Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe" lautet der Titel des Briefbandes, und bei seiner Lektüre begreift man, dass er auch über die Briefe hinaus Gültigkeit hat; die geliebte Zwillingsschwester geht als imaginierte Adressatin in nicht wenige Texte ein. Und auch Helga, die Schauspielerin werden wollte und dann als Helga Michie - so ihr Name nach der zweiten Eheschließung - zur bildenden Künstlerin wurde, bezieht sich in ihrem Werk immer wieder auf Ilse Aichinger. Alles, was man sich nach der Lektüre dieses intensiven Briefwechsels aus den Jahren 1939 bis 1947 und seinen hervorragenden Kommentaren noch wünscht, ist die Edition der weiteren Briefe sowie der Tagebücher von Ilse Aichinger und vor allem eine Aichinger-Biografie.

Autorenporträts für das Radio

Die Wieder Edition Korrespondenzen, die sich um das Spätwerk von Ilse Aichinger nicht hoch genug einzuschätzende Verdienste erworben hat, legte zum 100. Geburtstag der Autorin auch ein Band mit ihren Radio-Essays aus den 1950er Jahren vor. Herausgegeben und mit einem instruktiven Nachwort von Simone Fässler, versammelt dieser Band Porträts von Autoren, die für Ilse Aichinger von besonderer Wichtigkeit waren, sowie einen Beitrag über die Geschwister Scholl.

Schon im Porträt von Adalbert Stifter, dem frühesten Beitrag, bricht Ilse Aichinger das konventionelle Stifter-Bild auf, indem sie seinen Suizid wichtig nimmt. Wie Simone Fässler, die unter anderem auch für den wichtigen Band von Interviews mit Ilse Aichinger verantwortlich war, hellsichtig herausstellt, porträtiert Ilse Aichinger ihre Figuren vor allem von ihrem Ende her - fast so, als wäre ihre "Spiegelgeschichte" dabei Pate gestanden.

Das Buchcover von Ilse Aichingers: Die Frühvollendeten.

EDITION KORRESPONDENZEN

Ilse Aichinger, »Die Frühvollendeten«. Radio-Essays

Ein Glück!

Die frühen Radio-Essays dokumentieren, das Ilse Aichinger mit dem Medium Radio, das damals seine Glanzzeit hatte, nicht nur als Hörspielautorin verbunden war, und zeigen sie als Intellektuelle und als genaue Leserin abseits des Mainstreams. Von besonderem Interesse ist ihr Portato von Georg Trakl, in dem schon jener einzigartige Text über Trakl angelegt ist, der sich später im Prosaband "Kleist, Moos, Fasane" finden wird. Trakl ist in dem Rundfunk-Porträt "nicht ein Träumer im verwaschenen und schon verlorenen Sinn des Wortes, sondern im Sinn der Prägnanz und der Prophetie".

Auch Trakl wird von seinem Ende her gelesen, von seinem Tod in Galizien im Ersten Weltkrieg, und das führt zur klaren Diagnose, dass nicht Trakl krank war, sondern die Welt, die ihn umgab. Ilse Aichingers Begründung: "Denn der zuständige und sicherlich korrekte Stabsarzt war wohl nur das Symptom einer Welt, die sich, ohne sich darüber klar zu sein, schon bereitmachte, starken Mutes und festen Blickes Folterkammern und Gasöfen zu betrachten."

Diese Radio-Essays waren für Ilse Aichinger weit mehr als nur eine Brotarbeit. Es ist ein Glück, dass man sie jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entstehung, endlich auch lesen kann.

Service

Ilse Aichinger, "Die Frühvollendeten", Radioessays, Edition Korrespondenzen
Helga und Ilse Aichinger, "Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe", Briefwechsel, Wien - London, 1939 bis 1947, Edition Korrespondenzen

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