Abdulrazak Gurnah

Ill. Niklas Elmehed © Nobel Prize Outreach

Literaturnobelpreis geht an Abdulrazak Gurnah

Der tansanische Autor Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 in Sansibar) erhält überraschend den Literaturnobelpreis 2021. Er erhält die Auszeichnung "für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten".

Ja, die Schwedische Akademie liebt Überraschungen und mit der Bekanntgabe des Literaturnobelpreises an den Autor Abdulrazak Gurnah ist es ihr wieder einmal gelungen. Sogar der Autor selbst konnte es erst glauben, als man seinen Namen offiziell verkündete, wie er in einer ersten Reaktion bekannt gab. Es sei wunderbar, er fühle sich geehrt und dankbar, sei aber immer noch dabei, die Information zu verarbeiten, so Gurnah.

Abdulrazak Gurnah

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Bei der Bekanntgabe des Nobelpreises wurde er als einer der wichtigsten Vertreter der postkolonialen Literatur bezeichnet. Zehn Romane und eine Reihe von Kurzgeschichten hat Gurnah veröffnetlicht, der heute als pensionierter Universitätsprofessor in England lebt. Hierher ist er schon als Jugendlicher aus seiner Heimat Sansibar geflohen, im Exil begann er auf Englisch zu schreiben. Aber auch andere Sprachen hätten Einfluss auf sein Werk, so der Akademievorsitzende Andress Olsson.

Es ist ein Literaturnobelpreis mit Signalwirkung, immerhin hatte man schon lange angekündigt, den Blick stärker auf die Welt zu richten, über den eurozentristischen Tellerrand hinaus. Dennoch sei die Anerkennung in einer Zeit der Flüchtlingskatastrophen und des Erstarkens rechter Parteien, nicht unmittelbar politisch motiviert gewesen, betonte Olsson, denn die Arbeitsweise des Kommitees sei eine längerfristige, die Themen Exil und Migration schon seit vielen Jahren brennendend.

„Es sind immer die Mächtigen, deren Erzählungen die größte Kraft und den größten Einfluss haben."

Tanzania, Anfang des 20. Jahrhunderts: Weil sein Vater Schulden bei ihm hat, muss der junge Yusuf einen reichen arabischen Kaufmann und seine Karawane auf einer abenteuerlichen Reise hinein ins Kongo-Becken begleiten. Überfälle feindlicher Stämme, Angriffe wilder Tiere und eine schwer durchdringliche Wildnis, machen die Reise zu einem gefährlichen Abenteuer. Viele erinnerte Abdulrazak Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ an Joseph Conrads berühmte Erzählung „Herz der Finsternis“, mit dem wesentlichen Unterschied, dass hier die Geschichte nicht von einem weißen Eroberer erzählt wurde.

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„Es sind immer die Mächtigen, deren Erzählungen die größte Kraft und den größten Einfluss haben, weil ihre Geschichten rund und abgeschlossen sind, während die Geschichte der Eroberten mit ihrer Eroberung enden und deshalb in der Luft hängen“, sagt Gurnah.

Genau diese losen Fäden greift Abdulrazak Gurnah in seinen Romanen auf, verwebt sie neu, vermeidet in seinem Erzählteppich aber die bekannten Muster und Klischees. Sein Schreiben über Fortgehen und Ankommen sei ein fortdauernder Work in Progress, eine unendliche Geschichte.

"Es war unmöglich nicht zu begreifen, dass wir zu einer größeren Welt gehörten, die ihre Kultur und Geschichte teilte.“

„Die Frage nach der Heimat beschäftigt mich immer weiter. Wie schreibt man über das Verhältnis von Hier und Dort, darüber, wie es ist, hier zu leben und sich vorzustellen, dort zu sein? Und nach jedem Roman habe ich das Gefühl, ein wichtiger Aspekt zu dieser Frage fehlt“, erzählt Gurnah.

Abdulrazak Gurnah

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Abdulrazak Gurnah wurde 1948 auf der Insel Sansibar geboren. Die liegt vor der Küste Tansanias und gehört heute als halbautonomer Teilstaat auch zu dem ostafrikanischen Staat. Obwohl nur so groß wie Vorarlberg lernte Gurnah dort früh die weite Welt kennen.

„In meiner Kindheit kamen jeden November Schiffe von überallher, Kaufleute aus Arabien, der Golfregion, aus Indien und sogar aus Thailand, strömten plötzlich durch die Straßen unserer Stadt und breiteten überall ihre Waren aus. Sie schliefen an jedem verfügbaren Ort, strömten in die Moscheen und Cafés, man hörte sie ihre Lieder singen oder sah sie in Streitereien verstrickt. Es war unmöglich nicht zu begreifen, dass wir zu einer größeren Welt gehörten, die ihre Kultur und Geschichte teilte.“

„Da gibt es jemanden, der auf einer kleinen Insel in einem kleinen Dorf lebt und dann seine Heimat verlässt."

1963 erlangte Sansibar die Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft, es folgte ein blutiger Bürgerkrieg, der sich gegen die arabischstämmige Bevölkerung richtete, zu der auch Gurnah gehörte. Daraufhin ging er nach England ins Exil und studiert dort Englische Literatur. In seinem Roman „Fremde Gestade“, auf Englisch „By the Sea“ lässt er die Migrationserfahrung, die er als 20-Jähriger machte, einen älteren Mann erleben.

„Da gibt es jemanden, der auf einer kleinen Insel in einem kleinen Dorf lebt und dann seine Heimat verlässt. Und mich interessiert, wie sich dadurch nicht nur sein Leben, sondern auch sein Bewusstsein und Denken verändern.“

Wie findet sich der Mensch in einer neuen Umgebung zurecht? Wie geht er mit dem Gefühl um, fremd zu sein? Wie gelingt die Assimilation und wie schirmt er sich gleichzeitig gegen Einflüsse ab, mit denen er sich nicht identifizieren kann? Man glaubt es hier mit der typischen Erfahrung von Migranten zu tun zu haben, tatsächlich geht es hier um ein viel allgemeineres Gefühl, sagt Gurnah, und verweist auf Herman Melvilles berühmte Erzählung.

Man muss nicht aus einem anderen Land kommen, um das Gefühl der Entfremdung zu kennen. In Melvilles „Bartleby“ wird etwa von einer Entfremdung erzählt, die nichts mit der Herkunft aus einem anderen Land zu tun hat.

"Erinnerung lässt sich nicht mit einem Schalter an- und ausschalten."

Gurnah konnte erst in den 1980er-Jahren erstmals wieder Sansibar besuchen. Lange gab es seine Heimat also nur als Erinnerung für ihn. Seine Literatur sei deshalb auch als Untersuchung zu begreifen, wie diese seltsame Funktion des menschlichen Gedächtnisses funktioniert.

„Mich interessiert die Erinnerung, wie Menschen sich erinnern und was sie mit ihren Erinnerungen und aus ihren Erinnerungen machen. Erinnerung lässt sich nicht mit einem Schalter an- und ausschalten. Manchmal lassen sich Erinnerungen nicht verdrängen und dann ist es wichtig, dass man Möglichkeiten hat, mit ihnen umzugehen“, sagt Gurnah.

Ist die Erinnerung eines seiner wiederkehrenden Themen, so ist das andere das Reisen. Kein Thema, das er sich ausgesucht habe, so Gurnah, so wie man sich überhaupt seine Themen als Schriftsteller nur selten aussuchen könne.

„Nach meinen ersten zwei oder drei Romanen, fragte mich jemand, warum ich immer über Reisen schreiben würde ... Tja, nicht alle seine Themen sucht man sich aus, manche sind einfach da.“

Über eine Reise nach Schweden im kommenden Dezember kann Gurnah leider nicht schreiben, die wird nämlich nicht stattfinden, denn wie das Nobelpreiskomitee bereits bekannt gegeben hat, wird die Verleihung des Literaturnobelpreises dieses Jahr erneut nicht in Stockholm stattfinden.

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The Nobel Prize - Biobibliographical notes Abdulrazak Gurnah

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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