
MUMOK/GEORG PETERMICHL
Chronist des Zeitgeists
Wolfgang Tillmans im mumok
Er war der erste Deutsche, der mit dem renommierten Turner-Preis ausgezeichnet worden ist und hat die Schwulen- und Technoszene der 1990er Jahre in ikonischen Fotografien festgehalten. Heute belegt Wolfgang Tillmans in internationalen Kunstrankings Spitzenplätze und stellt in den großen Museen der Welt aus. Unter dem Titel "Schall ist flüssig" widmet das Museum moderner Kunst Wien (mumok) dem Künstler eine umfassende Werkschau. Sie spannt einen Bogen von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart.
13. Jänner 2022, 02:00

MUMOK/GALERIE BUCHHOLZ
Ein Mobiltelefon lehnt an einer Plastikflasche, eine Ordnung der banalen Dinge wird ins Bild gesetzt. Wolfgang Tillmans Momentaufnahme, die offensichtlich in einem Krankenhauszimmer aufgenommen worden ist, wirkt wie ein Stillleben des 21. Jahrhunderts. Auf dem Display sieht man, dass gerade eine Videotelefonie im Gange ist.
"Lüneburg Self" nennt Wolfgang Tillmans dieses Bild, das er als Selbstporträt bezeichnet. Es könnte sinnbildlich für eine Zeit stehen, die den Rückzug der Körper verordnet hat. "Es ist eigentlich doch wie ein Wunder, dass ich ein kristallklares Bild von einem Menschen sehe, der gerade in London ist", räsoniert der Künstler. "Natürlich habe ich ein solches Bild bereits oft gesehen, aber es gibt einen Moment, in dem Phänomene in einer größtmöglichen Klarheit erscheinen und dies ist der Moment, in dem ich ein Bild mache."
Der Rückzug der Körper
Wenn das Mobiltelefon als technische Wahrnehmungsprothesen den Körper erweitert, schaut Wolfgang Tillmans ganz genau hin und erkundet das Verhältnis von Nähe und Distanz, das im Zeitalter der Pandemie neu ausverhandelt werden musste. Diese aktuellen Arbeiten wirken wie ein Kontrapunkt zu den Arbeiten, mit denen Wolfgang Tillmans in den 1990er Jahren berühmt geworden ist.
Als Chronist der schwulen Party- und Rave-Szene dokumentierte Tillmans ein großes Fest der Körper. Wer sich die Bilder, in denen nicht zuletzt hemmungslos Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden, ansieht, kommt aus heutiger Perspektive nicht umhin, an das hedonistische Treiben einer Welt von gestern zu denken. "Ich habe die 1990er Jahre als Zeit des Aufbruchs erlebt", so Wolfgang Tillmans. "Ich lebte in London und ein Geist von Paneuropäismus hatte die Gesellschaft ergriffen, Ost und West wuchs zusammen, der Brexit lag in weiter Ferne. Die befreite Körperlichkeit, die ich in der Rave-Szene erlebt habe, hat mich begeistert."

MUMOK/GEORG PETERMICHL
Wolfgang Tillmans in der Ausstellung
Alchemie der Dunkelkammer
1992 zieht der Deutsche Wolfgang Tillmans mit 24 Jahren nach London und wird neben einem weiteren deutschen Fotografen, Juergen Teller, die Lifestyle-Fotografie der Dekade prägen. Tillmans erfindet eine gänzlich neue Bildsprache fernab der aalglatten Hochglanzästhetik, die man aus Modemagazinen kennt. Er fotografiert für die Lifestylebibel "i-D" und "Spex", das Popkulturorgan der Deutschen.
Seit 2012 fotografiert Tillmans nur noch digital. Der Alchemie der Dunkelkammer bleibt er aber auch danach verpflichtet. Seine abstrakten Arbeiten, die am Kunstmarkt hoch begehrt sind, entstehen mittels fotochemischer Verfahren ohne Kamera. Der Künstler selbst spricht von einer Fortsetzung der Malerei mit den Mitteln der Fotografie.
Service
Die Ausstellung im mumok ist noch bis zum 24. April 2022 zu sehen.
Wolfgang Tillmans