Thomas Wally

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Neue Musik auf der Couch

Ruth Crawford Seeger: String Quartet

Würden Eigenständigkeit und Visionarität in einem direkt proportionalen Verhältnis zu Erfolg stehen und somit automatisch einen Platz im Kanon der Meister:innenwerke bedeuten, so wäre Ruth Crawford Seegers Streichquartett eines der am meisten gespielten Werke der neueren Musikgeschichte.

Komponiert im Jahre 1931, entwirft darin die amerikanische Komponistin in vier deutlich in sich abgeschlossenen Sätzen bis dato noch wenig erforschte Möglichkeiten, verschiedene Stimmen gegeneinander prallen zu lassen, in- und miteinander zu verweben, kurz: Kontrapunktik auf höchst eigenwillige Art und Weise zu betreiben.

Zwei Konzepte seien in diesem Zusammenhang genannt, die den kompositionstechnischen Hintergrund dieses Werks beleuchten: dissonanter Kontrapunkt und Heterophonie, wobei letztere Begrifflichkeit von der im musiktheoretischen Diskurs etablierten deutlich abweicht; ist hier nämlich nicht das gleichzeitige Erklingen von ähnlichen Varianten ein und derselben Melodie gemeint, also keine klangliche Ähnlichkeit, sondern eine klangliche Andersartigkeit, ein Andersklingen, ein Gegeneinanderklingen von deutlich voneinander abgetrennten musikalischen Ideen.

So wie die Idee der Heterophonie, so wurde auch die Idee des dissonanten Kontrapunkts - verkürzt: die Umkehrung des in der traditionellen Kontrapunktlehre entwickelten Verhältnisses von Konsonanz zu Dissonanz - von Ruth Crawford Seegers Ehemann, Charles Seeger, theoretisch ausformuliert. Beide Komponist:innen waren Teil der Gruppe der sogenannten "Ultra-moderns", einer amerikanischen Avantgarde-Szene, der unter anderem auch Ives, Varèse, Cowell, Ruggles, und Rudhyar zugehörten.

Insbesondere der dritte Satz dieses kammermusikalischen Juwels hat immer wieder analytische Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Eine der Besonderheiten dieses Satzes ist die Tatsache, dass, so einfach gestrickt diese Musik auf den ersten Blick - bzw. beim ersten Hinhören - erscheint, sie auf höchst unterschiedliche Arten wahrgenommen werden kann. Handelt es sich um eine einzige Melodie, die durch die Instrumente wandert? Sind es mehrere gleichzeitig erklingende Melodien? Oder ist das Ganze ein wabernder Organismus, der die Klangflächenkompositionen der 1960er vorwegnimmt?

Angesichts der betörenden Modernität dieses Werkes ist es beinahe bedrückend, dass Ruth Crawford Seeger über einen längeren Zeitraum ihres Lebens gar keine Musik komponierte. Bleibt zu hoffen, dass die Nachwelt - oder besser: die musikalische Gegenwart - den existierenden Werken dieser einzigartigen Komponistin jenen Platz im Konzertleben zuweist, der ihnen seit langem gebührt.

Text: Thomas Wally

Übersicht