Ambiente

Urbane Identitäten im Wandel

Kaunas und Esch sind die Europäischen Kulturhauptstädte 2022

Am Zusammenfluss von Nemunas und Neris, den beiden größten Flüssen in Litauen, liegt Kaunas, einst, im Mittelalter, eine wichtige Festung, dann ein blühendes Handelszentrum und heute, mit knapp mehr als 300.000 Einwohner/innen, die zweitgrößte Stadt von Litauen. Die Zweite - das gab den Kaunasser/innen jahrzehntelang Anlass zu Wehmut und nostalgischem Rückblick. Denn man war einmal mehr, die Erste, die Hauptstadt des unabhängigen Litauens zwischen den beiden Weltkriegen.

In dieser kurzen Zeit erlebte Kaunas politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und kulturell einen gewaltigen Aufschwung, es wurde zu einem Zentrum der Moderne. Doch dann nahmen die Sowjets das Land ein, Vilnius erhielt seinen historischen Status als Hauptstadt zurück. Alle wichtigen Institutionen wanderten in die alte/neue Kapitale ab, Kaunas versank in relativer Bedeutungslosigkeit.

Die Stadt Kaunas erzählen

Ist Kaunas wirklich eine "Zweitstadt"? Ist es nicht eher eine "Zukunftsstadt"? Das waren zwei zentrale Fragen, die sich die Kunstschaffenden und Intellektuellen stellten, die maßgeblich an der Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt beteiligt waren. Einiges war seit der zweiten Unabhängigkeit des Landes 1990/91 in Bewegung geraten, doch nur ein paar Tausend Leute interessierten sich für die neuen Initiativen im Kulturbereich, wie etwa die Kaunas-Biennale.

Schon der Vorbereitungsprozess für 2022 hat dagegen wichtige Dynamiken in Gang gesetzt, ist Chefkuratorin Virginija Vitkienè überzeugt. Mit Projekten wie "Die Stadt erzählen" sowie mit dezentralen künstlerischen Interventionen will man möglichst große Teile der Bevölkerung einbinden. Der Fokus auf das Erbe des Modernismus soll zugleich das Bewusstsein und das Engagement für das reiche Erbe der Stadt stärken.

Sich für die Zukunft aufzustellen bedeutet auch, sich der Vergangenheit zu stellen. In Kaunas betrifft das insbesondere das schwere Erbe des Zweiten Weltkriegs, als unter deutscher Besatzung - und mit litauischer Kollaboration - mehr als 90 Prozent der Jüdinnen und Juden ermordet wurden. "Kaunas ist nicht eine litauische Stadt, es war im Lauf der Geschichte und ist auch heute wieder eine multikulturelle Stadt", betont Daiva Citvarienė, die Programmleiterin des "Gedächtnis-Projekts" im Rahmen von Kaunas 2022.

Esch an der Alzette

Multikulturell präsentiert sich auch das im Süden von Luxemburg gelegene Esch an der Alzette. Lang prägten Armut und landwirtschaftliche Subsistenz die Region, im 19. Jahrhundert sahen zahlreiche Menschen den einzigen Ausweg in der Emigration nach Nordamerika. Dann begann sich die Eisen- und Stahlindustrie zu entwickeln, italienische und später portugiesische Arbeiter zogen nach Esch. Knapp 100 Jahre lang arbeiteten die Hochöfen im Stadtteil Belval, 1997 wurde der Betrieb eingestellt. Ein Hochofen wurde nach China verkauft, zwei sind als Industriedenkmäler geschützt.

Rund um diese hoch aufragenden Zeugen der industriellen Vergangenheit, zwischen alten Beförderungsbändern, Werks- und Lagerhallen, die ebenfalls erhalten bleiben sollen, ist inzwischen ein zeitgenössisches Viertel herangewachsen. In modernen Bauten sind eine Universität, Start-up-Inkubatoren, IT- und Forschungslabore untergebracht. In und vor diesen Kulissen ist für das heurige Jahr ein reichhaltiges Kulturprogramm geplant, an dem auch renommierte internationale Institutionen wie die Ars Electronica Linz mitwirken.

Miteinbezogen ist auch das weitere Umfeld dies und jenseits der Grenze zu Frankreich. Für Esch 2022 sind alte Bergbauinfrastrukturen und lokale Bahnen saniert worden. Die Gäste können sich zwischen industriellem Erbe und neuen Biosphärenreservaten bewegen. Nachhaltigkeit ist angesagt. Man setzt auf ein neues Image für die Minette, das "Land der Roten Erde", wie die Region nach dem einst hier abgebauten sedimentären Eisenerz genannt wird.

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