Der große Saal

KONZERTHAUS/LUKAS BECK

Ö1 Konzert | RSO Wien

Sechs Minuten Jumpscares

Das RSO Wien live mit Werken von Unsuk Chin und Anton Bruckner.

Südkorea, so hat die 1961 in Seoul geborene Komponistin Unsuk Chin erzählt, war in ihrer Kindheit ein armes Land. Obwohl ihr Vater als Minister der Familie gesicherte Verhältnisse ermöglichte, musste sie doch zu Freunden gehen, um das zu hören, was es im Elternhaus nicht gab: Schallplatten. Ihre Liebe galt Pjotr Tschaikowsky, Johannes Brahms und - Ludwig van Beethoven. "Er hat immer nach Neuland Ausschau gehalten"sagt Chin, "war der erste willentlich moderne Komponist. In jedem Stück suchte er eine individuelle Lösung, auch wenn er dafür die tradierte Formensprache aufbrechen musste."

Heute gehört Unsuk Chin zu den erfolgreichsten Komponistinnen der Gegenwart. Die ehemalige Schülerin von György Ligeti hat Werke geschrieben, die auf dem internationalen Parkett begeistern - etwa das Ensemblestück "Akrostichon-Wortspiel ", mit dem ihr 1991 der internationale Durchbruch gelang, das Violinkonzert von 2004 oder die Oper "Alice in Wonderland " von 2007. Dabei ist sie musikalisch, ähnlich ihrem Vorbild Beethoven, neugierig geblieben, ist keiner Schule zu subsumieren. Enttäuscht wird, wer den koreanischen Zungenschlag in ihrer Musik sucht.

Chins Beitrag zum Beethoven-Jahr

Das Klischee will, dass insbesondere asiatische und afrikanische Komponistinnen und Komponisten Brücken zwischen den Kulturen bauen. Unsuk Chin hingegen, die in Berlin ausgebildet wurde, betrachtet ihre Musik als geografisch nicht verankert - "ich halte das auch nicht für wünschenswert". Ihre Musik fühlt sich allem verpflichtet, was zeitgenössische Musik ausmacht: dem Reichtum an Vokabeln, Farben und Formen, der Emotionen, Sinne und Intellekt gleichermaßen stimuliert.

Zurück zu Beethoven und hin zum Konzert des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien unter Markus Poschner, das am 25. Jänner im Wiener Konzerthaus sowie live in Ö1 erklingt. Das Programm beginnt mit "Subito con forza", Chins Beitrag zum Beethoven-Jahr 2020. Das Auftragswerk des Concertgebouworkest aus Amsterdam streift in nur sechs Minuten mehrmals Beethoven-Klänge, um diese sofort im schillernden Farbspiel der Komponistin aufzulösen. Vorangepeitscht aber wird die Musik von unermüdlichen Orchesterschlägen: "Subito con forza", übersetzbar mit "plötzlich kraftvoll". Den Horrorfans unter uns mag als freie Übersetzung der Begriff "Jumpscare" angeboten werden.

Markus Poschner

Markus Poschner

REINHARD WINKLER

Bruckners "Wagner-Symphonie"

Sechs Minuten Kraftentfaltung folgt eine Stunde Bruckner im Original. Dabei sind die Energielevel beider Werke einander ebenbürtig. Bruckner schrieb seine Dritte Symphonie 1873 in Wien und reiste nach Abschluss sofort nach Bayreuth zu seinem großen Idol Richard Wagner, um ihn zu fragen, ob er ihm seine Dritte oder Zweite widmen dürfe. Beide Komponisten besprachen dies ausführlich, tranken dabei aber so viel Bier, dass sich Bruckner anderntags nicht mehr erinnern konnte, auf welche Symphonie die Wahl gefallen war. Einige Briefe später war man sich einig, dass die Symphonie Nr. 3 auserwählt worden war, und so bekam das Werk den Spitznamen "Wagner-Symphonie".

Markus Poschner präsentiert im Rahmen seines Bruckner-Zyklus beim RSO Wien die Dritte in der Urfassung, deren Wagner-Zitate Bruckner bei der späteren Überarbeitung eliminierte. Heute überzeugen gerade die ungezügelten Urfassungen seiner Musik. Vielleicht sind nach sechs Minuten Jumpscares ja die epischen Weiten Bruckners genau das Richtige.

Text: Christoph Becher, Intendant des RSO Wien

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