Annie Ernaux

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Ein Frauenleben

"Die Jahre" von Annie Ernaux in Linz

Als "Ethnologin ihrer selbst" bezeichnet sich die gefeierte französische Autorin Annie Ernaux. Ihr vielbeachtetes Buch "Die Jahre" über ihr eigenes Leben wurde von der Regisseurin Claudia Seigmann vom theaternyx in Linz für die Bühne adaptiert. Als Kooperation mit dem Linzer Landestheater ist das Stück in den Kammerspielen zu sehen.

Mit ihrem einzigartigen Stil der autofiktionalen Erzählung verknüpft sie intimste persönliche Erlebnisse mit soziologischen Beobachtungen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Renommierte Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis bezeichnen Ernaux als Vorbild, haben ebenfalls Bücher in diesem Stil verfasst. In ihrer Heimat Frankreich erfreuen sich Ernauxs Werke schon länger großer Beliebtheit, in den letzten Jahren wurde sie, nicht zuletzt durch die gelungenen Übersetzungen von Sonja Finck, auch im deutschsprachigen Raum immer populärer.

Ein Frauenleben in Europa

Von 1940 bis in die heutige Zeit - von der Kindheit in der Nachkriegszeit, über das Studium, von Liebschaften hinzu Mutterschaft und dem Älterwerden als Frau - das alles und noch mehr erzählt Annie Ernaux in "Die Jahre". Ein Buch, dass ein Frauenleben im Europa der letzten Jahrzehnte erfahrbar macht. Von außen auferlegte Scham über zu kurze Röcke oder zu enge Kleider, Mahnungen, man möge nicht so wild sein, wie die männlichen Zeitgenossen und die Sehnsucht nach Selbstbestimmung in Sachen Körper und Sexualität prägen die Erzählung.

Ein Panorama der Jahrzehnte

Diese weibliche und durchwegs feministische Perspektive Ernauxs war es auch, die das Buch für die Regisseurin Claudia Seigmann so reizvoll gemacht hat. Als es ihr in die Hände fiel, hatte sie das Gefühl, „dass ist der Stoff, auf den ich gewartet habe“, so Seigmann. Die Erzählung anhand eines einzelnen Schicksals würde ein Panorama über die vergangenen Jahrzehnte bis ins heute aufspannen. Eine Geschichte, in der sich auch die Leben unzähliger anderer Frauen ihrer eigenen Generation, aber auch der ihrer Mutter wiederfinden würden, so die Regisseurin weiter.

In ihrer Erzählung bleibt Annie Ernaux dabei immer ein Stück weit auf Distanz zu sich selbst, spricht von einem Mädchen, oder einer Frau, die, sie. Und dennoch teilt sie ihre höchstpersönlichen Erinnerungen und Erlebnisse. Für Claudia Seigmann entstehe der Eindruck, dass man etwas erfahren und erleben darf, wo man einerseits stark miteinbezogen ist, eben weil man viele Erlebnisse teilt. Und anderseits entstehe aber auch das Gefühl, dass Dinge ausgesprochen werden, die eigentlich nicht für die eigenen Ohren bestimmt sind. Beispielsweise wenn Annie Ernaux unverblümt und offen von ersten sexuellen Erfahrungen berichtet.

Der Wandel der Zeit

Die eigene Veränderung spiegelt sich im wiederkehrenden Motiv von Familienessen und Ernauxs veränderter Wahrnehmung dessen wider. Daneben führen Fotografien wie ein roter Faden durch die Erzählung. Ganz genau werden sie beschrieben, was das Mädchen darauf anhat, wie es seine Haare trägt, oder wo die junge Frau gerade sitzt, welche Haltung sie einnimmt, was im Hintergrund zu sehen ist. Für Claudia Seigmann ist diese detaillierte Beschreibung der Autorin auch ein Versuch in das Gefühl und in das Sein der damaligen Zeit einzutauchen. Sich selbst zu verstehen und „auf die Spur zu kommen“, so die Regisseurin.

Für die Inszenierung dieser Spurensuche wird die Bühne, so Claudia Seigmann, zur Zeitmaschine. Die Jahrzehnte, die man zusammen mit Annie Ernaux durchlebt, sind mit Linien am Boden markiert, auf dem die drei Darstellerinnen immer weiter vorrücken und sich so der Gegenwart - und damit auch dem Publikum - immer weiter nähern. Ganz reduziert und ohne szenische Illustration gibt die Regisseurin dem Text von Ernaux ausreichend Raum, der so seine Sogkraft entfalten kann.

Frauensolidarität und Zeitgeschichte

Das Ziel war es, sich bei der Form ganz auf die Kraft der inneren Bilder zu verlassen, die der Text, so Seigmann, erzeugen würde. Den Vorgang auf der Bühne beschreibt sie dabei als äußerst konzentriert. Den Text hat die Regisseurin dabei ganz bewusst auf drei Darstellerinnen aufgeteilt. Dass würde einerseits die verschiedenen Lebensanschnitte illustrieren, aber gleichzeitig auch etwas über Frauensolidarität erzählen. Denn die drei Schauspielerinnen sind voneinander abhängig und bringen das Geschehen auch nur zu dritt durch ihre geteilte Verantwortung auf die Bühne. Ein Geschehen, das nicht nur die Geschichte einer Frau, sondern ein Stück Zeitgeschichte erzählt.

Gestaltung: Julia Sahlender

Service

Kammerspiele Linz - "Die Jahre"
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