ORF/MARTIN LEITNER
Ö1 Hörspiel
Das Glück inmitten von allseits Lebendigem
Das Hörstück „Naturaufnahme. Stimme/Unstimme“ ist eine akustische Reise in teils unberührte Gefilde. Von der stürmischen Brandung der Hebriden bis in den von Vogelstimmen erfüllten Seewinkel: Die feinsinnigen Tondokumente von ORF Tonmeister Martin Leitner und die rhythmisch-assoziativen Dichtung von Bodo Hell zeugen von Naturschauspielen wie sie bisher noch wenige gehört haben.
25. April 2022, 02:00
Eine Aufforderung, die Vielfalt der Natur durch das Hören wieder zu entdecken - als das könnte man diese Produktion verstehen. Seit über dreißig Jahren ist Martin Leitner auf seinen Wanderungen und Reisen zumeist mit Aufnahmegeräten ausgestattet unterwegs. Anfangs noch mit Kassetten, später mit digitalen Recordern und einem Kunstkopf - einer Form der Mikrofonierung, die dem menschlichen Hören nachempfunden ist und einen binauralen, also besonders räumlichen, Klangeindruck ermöglicht.
Die akustische Erkundung der Welt
Oft führen ihn seine Erkundungen in Randlagen, in Gebirge oder auf Inseln, etwa nach Elba, Korsika oder Schottland, aber auch nach Island oder ins uigurische Kashgar. Martin Leitners Augenmerk gilt dabei immer den akustischen Erscheinungen der Natur. Die Klänge, die er dabei aufzeichnet, wirken auch in der Erinnerung nach: „Wenn man eine 20 Jahre alte Aufnahme von einer Reise anhört, ist das ein viel stärkerer Eindruck, als ein paar Fotos anzuschauen, weil die Zeitebene mitspielt und man mitten in diesen Raum zurückgeschleudert wird,“ so der Tonmeister.
„Die Geräusche der Natur wieder-zugeben könnte bedeuten: das Glück herbeizurufen, inmitten von allseits Lebendigem“
Faszination Ornithologie
Mit der Akribie und Leidenschaft eines Forschungsreisenden - der Vergleich mit dem „Weltvermesser“ Alexander von Humboldt sei an dieser Stelle gewagt - dokumentiert er mit Vorliebe die Rufe aus der Vogelwelt. Attackierende Küstenseeschwalben auf den Hebriden, einen werbenden Feldschwirl oder den schnarrenden Ziegenmelker hat er bereits aufgenommen; die allseits Bekannten wie Lerche und Kuckuck sowieso. Viele von ihnen kommen in „Naturaufnahme. Stimme/Unstimme“ zu Wort - sei es im prominenten Solo, im Zwiegespräch mit anderen Artgenossen, oder im Spiel mit Wind und Wellen.
Wellen am Strand
Tonangebend: Der Rhythmus der Natur
Ihre Stimmenvielfalt ist es auch, die in diesem Hörstück den Ton angibt. Dort wo die Arbeit an einem Hörspiel üblicherweise mit einer Textvorlage beginnt, baut „Naturaufnahme“ auf einer akustischen Landschaft auf. Ein Zugang, der auch für den Hörspiel-erfahrenen Martin Leitner neu war: „Es ist so das scheinbar Inhaltslose in den Vordergrund gerückt.“ Eine mehr als würdige Position, in der die hörbaren Natur- und Kunstwunder vor allem ihre emotionalen Qualitäten entfalten.
Kuckuck
Texte zwischen Naturlyrik und Naturvermittlung
Das Zirpen, Rattern, Heulen, Blecken und Klopfen der Natur sprachlich wiederzugeben vermag kaum jemandem besser als der Poet und Senner Bodo Hell. Nicht zuletzt, weil er seine Sommer seit Jahrzehnten unter glasklaren Sternenhimmeln auf einer abgeschiedenen Alm am Dachstein verbringt, ist ihm die Tier- und Pflanzenwelt aufs Engste vertraut.
Was dem Akustiker die klangliche Vielfalt der Natur, ist dem Dichter ihr sprachlicher Formenreichtum. Schon der Taxonomie, der wissenschaftlichen Benennung und Klassifizierung aller Lebewesen, wohne eine poetische Kraft inne, so Hell. In Beschreibungen, Essays oder schier endlosen Assoziationsketten versteht es Bodo Hell Naturlyrik mit fundierter Wissensvermittlung in der Manier eines Sir David Attenborough zu vereinen.
Naturaufnahme im doppelten Sinn
Das Claviton: Saiteninstrument aus dem 3D-Drucker
Auf musikalischer Ebene komplettiert der Pianist und Instrumentenbauer Georg Vogel das Hörspiel-Trio. Auf seinem selbst konstruierten Claviton, einem umgebauten Clavicord, kann er innerhalb einer Oktave anstatt der üblichen zwölf Töne sogar einunddreißig Töne wiedergeben. Das Ergebnis ist ein zwar schräg anmutender Klang, der der Naturtonreihe aber sehr nahekommt und dadurch fließende Übergänge zu den Naturaufnahmen ermöglicht. Virtuos eingespielt wurde das Instrument vom Konstrukteur selbst.
Bester Klangeindruck mit Kopfhörern und offenem Herzen
Meisterlich ist bisweilen auch die technische Umsetzung des Hörstücks: Wer es mit Kopfhörern und in ruhiger Umgebung genießen kann, der meint sich bisweilen selbst inmitten des Naturschauspiels wiederzufinden. Noch wichtiger ist allerdings, sich beim Hören an die Empfehlung von Bodo Hell zu halten: „Um dieses Glück, das eine mögliche Naturaufnahme bietet und versteckt hat, um das wahrzunehmen, muss das Herz ganz offen sein - und die Ohren umso mehr.“
Service
ORF Radiothek Podcasts - Ö1 Hörspiel
Rauriser Literaturtage - Bodo Hell: Lesung und Gespräch am 1. April