Gebrochenes Glas und Farbe

ANDREA VAN DER STRAETEN

Verschiedene fotografische Formate

Collision

Analoge Schwarz-Weiß-Bilder, Handy-Fotos und Duplikate von Polaroid-Fotografien: solch verschiedene fotografische Formate kombiniert die Künstlerin Andrea van der Straeten in „Collision“. Das ist ein Künstlerbuch in einer Edition von 30 Stück, signiert und nummeriert, und zugleich ein Ausstellungsobjekt, mit dem man auch verschiedene Weisen umgehen kann. In „Collision“ prallen zwei Sujets aufeinander: verschwommene Bilder von bunten Blumen, sowie Aufnahmen von durch Gewalteinwirkung zerborstenem Glass.

Das Buch als Kunst

Die durch die Pandemie auferlegten Lockdowns hat die Künstlerin Andrea van der Straeten für die Produktion von Editionen genützt - gleich vier Künstlerbücher hat sie 2020 zustande gebracht. Und jedes ist anders. Eines handelt von der Migrationsgeschichte eines Buches zu Pasolinis „Il Vangelo secondo Matteo“, aus einer norditalienischen Bibliothek auf den Flohmarkt am einstigen Drehort Matera in Süditalien. Ein anderes besteht aus farbigen chinesischen Papiermustern, aus gefaltetem und gewachstem Pizzapapier, aus Fotografien und aus Zeitungsausschnitten, die in ein chinesisches Übungsbuch für Kalligraphie appliziert sind. Und ein weiteres, mit dem Titel „Collision“, lässt Fotos von geborstenem Glas und Einschusslöchern in Schaufenstern mit impressionistisch-verschwommenen Blumenbildern aufeinanderprallen.

Reflexion über Fotografie

In „Collision“ treffen verschiedene Arten der Bildproduktion und der Bildreproduktion aufeinander: analoge und digitale Fotografie, Sofortbilder und deren Duplikate. Andrea van der Straeten betrachtet es als Sammelalbum für Foto-Interessierte. „Ich habe es absichtlich so gemacht, dass es nicht gebunden ist, dass es eine flexible Form behält. Man kann das Buch auseinandernehmen und die kleinen, eingeklebten Polaroid-Duplikate ablösen und anders verwenden - das ist der Sammelalbum-Aspekt“, erklärt Andrea van der Straeten.

Aber was ist „Collision“ eigentlich? Ein Buch für die Wand? Eine Foto-Edition fürs Bücherregal? Ein Kunstwerk für die Schublade? Von allem ein bisschen, oder alles gleichzeitig? Wo verläuft die Grenze zwischen Medium und Werk? „Es ist eine Reflexion über Fotografie, wie wir mit Fotografie umgehen, was sie verändert hat im Laufe der Zeit auch. Und es ist ein Sammelobjekt.“

Ein Einschussloch vor grünen Bäumen.

ANDDREA VAN DER STRAETEN

Messerscharfe Bruchlinien

Am Cover ist ganzseitig eine Glasscheibe vor Büschen und Bäumen in verschiedenen Schattierungen der Farbe Grün zu sehen, in der Mitte ein rundes Einschussloch mit abstrahlenden Rissen. Aufgenommen hat es Andrea van der Straeten vor einigen Jahren am Polytechnio in Athen. Sie vermutet, dass der Schuss 1973 gefallen ist, als der Aufstand der Studenten gegen die Militärjunta blutig niedergeschlagen wurde.

Eine Doppelseite in der Mitte der Publikation zeigt eine sich wie eine kristalline Eiskugel entfaltende Bruchstelle eines Juwelier-Schaufensters - die Dreidimensionalität dieser Glaswunde lässt die Heftigkeit der Gewalteinwirkung erahnen. Die rasiermesserscharfen Kanten der Bruchlinien im Glas, also Resultate von gewalttätigen Akten, entfalten unter Umständen auch eine gewisse Schönheit, meint die Künstlerin.

Die meisten Fotos in „Collision“ hat die Künstlerin während der Proteste der Gelbwesten in Paris aufgenommen. Verortet werden diese Aufnahmen nicht, und Personen sind keine zu sehen. Die Gewaltakte sind abstrahiert und auf den visuellen Gehalt der zerborstenen, zerschossenen, zertrümmerten Fenster- und Schaufensterscheiben reduziert. Die Proteste direkt kommentieren, das wollte Andrea van der Straeten ausdrücklich nicht.

Das Collision Kunstbuch.

ANDREA VAN DER STRAETEN

Weichgezeichnete Blüten

Im Kontrast zu den Glasbruchbildern stehen die kleinen Polaroids, die von den Buchseiten abgelöst werden können. Sie zeigen blühende Pflanzen und bunte Blumenwiesen, ebenfalls ohne Menschen und Ortsbezug, farblich trüb und leicht verschwommen. Von der Bildqualität her sind die auf Fotopapier reproduzierten Polaroids ganz anders, als die Glasbruchbilder. Darunter sind - außer den Fensterscheiben - auch Smartphones. Allerdings ist nicht der Handybildschirm selbst zersplittert, sondern die auf dem Touchscreen angezeigten Scheiben. Eine weitere Ebene der Reflexion über Techniken, über analoge und digitale Fotografie.

Aufgenommen wurden die Polaraids mit einer alten Automatik Land-Kamera aus den 1960er Jahren mit dem Trennbildverfahren. „Bei jedem dieser Polaroids war die Dunkelkammer sozusagen mit dabei. Trennbilder heißen sie, weil man die Fotos nach einer bestimmten Zeit von der Chemie-Schicht abzieht“. Ein kompliziertes und aufwändiges Verfahren - und kostspielig obendrein. Die Schwarzweiß-Filme sind gar nicht mehr erhältlich, von den Farbfilmen gibt es nur wenige. Zehn Fotos geben die Filme jeweils her; und sie sind längst abgelaufen, sodass es bei der Farbnuancierung und Schärfe bei jedem Auslösen einen Überraschungseffekt gibt. Um den chemischen Abfall der Entwicklung zu entsorgen, hat die Künstlerin beim Fotografieren ein Mistsackerl mit. Der Müll hingegen, der bei der Smartphone-Fotografie anfällt, sind zahlreiche unnötig gemachte Bilder, digitale Daten also.

Die Dunkelkammer in der Handtasche dabei

Für Andrea van der Straeten ist interessant, wie man sich wahrnehmend/aufnehmend durch die Stadt bewegt: „Mir fällt etwas auf, ich nehme etwas wahr, das fotografiere ich mit dem Handy. Dann gehe ich unter Umständen an den gleichen Ort nochmal zurück und schleppe die Ausrüstung mit, ein Stativ, eine Analogkamera oder die Polaroid-Kamera und einen Sack für die chemischen Abfälle. Also, es sind unterschiedliche Arten, wie man sich fotografierend in der Stadt bewegt. Und die sprechen natürlich auch über unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und der Auseinandersetzung mit fototechnischen Möglichkeiten.

Das Buch “Collision” ist ein Exponat in Andrea van der Straetens Solo-Ausstellung „Remote Horizon“ in der Galerie Raum mit Licht auf der Kaiserstraße. Inszeniert hat sie die losen Seiten ihres Künstlerbuches in einer Vitrine, wild durcheinandergewirbelt: „Wie eine Explosion. Also eigentlich greift es das auf, was man auf den Fotos auch sieht: Unordnung, Chaos, Etwas unorthodox auseinander Knallendes.“

Gebrochene Scheibe und Farbe.

ANDREA VAN DER STRAETEN

Leintuch als Landkarte

Darin korrespondiert „Collision“ mit anderen Fotoarbeiten in der Ausstellung; etwa mit den Aufnahmen erodierender Sedimentgesteinsformationen in Süditalien. Diese fragilen Mond-Landschaften sind aufs Format eines kleinen Polaroidbildes komprimiert, während der intime Raum eines Bettlakens 1:1 auf einen Print in Weltkartengröße übertragen wurde. Dabei handelt es sich um ein Tuch aus Leinen, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Hand gewebt und genäht wurde. „Es hat mich fasziniert“, erklärt die Künstlerin, „weil es so unendlich oft geflickt und repariert worden ist mit all diesen Fetzen unterschiedlichster Art, die aufeinander genäht worden sind, um Löcher zu decken, die durch den kontinuierlichen Gebrauch entstanden sind. Dieses Material, dieses an sich sehr starke Leinen-Material, ist im wahrsten Sinne des Wortes fadenscheinig geworden. Und mich hat es fasziniert, damit etwas zu versuchen, nämlich eine Fotografie zu machen, die aber gleichzeitig die Grenzen zwischen Fotografie und Zeichnung verwischt. Oder Fotografie, Objekt und Zeichnung. Ich sehe in diesen vielfach geflickten und reparierten Betttüchern so etwas wie eine Kartografie, eine Kartografie - das klingt jetzt vielleicht ein bisschen pathetisch - der Armut oder der Bescheidenheit oder der Nachhaltigkeit.“

Um eine Detailgenauigkeit zu erreichen, die jeden Webfaden und jedens Nadeleinstich sichtbar macht, musste das Original-Leintuch in mehreren Teilen digital abfotografiert werden. Diese Teile wurden dann - wie beim Nähen eines Bettuches - wieder zusammengesetzt. Stitching, also nähen oder heften, nennt man diesen fotografischen Prozess.

Strukturen der Versehrtheit

Die zerschlissene und zigfach geflickte Textilie; Risse in einem Lederbezug; zerborstene Glasscheiben; und brüchige Steinmassive - Andrea van der Straetens Ausstellung ist voller kaputter Oberflächen. Es geht ihr um Verwerfungen, um Strukturen der Versehrtheit, sagt sie, und um Möglichkeiten, diese zu reparieren oder zu beschädigen, kurz: zu steuern. „Wenn man so will, geht es bei all dem darum, dass wir nicht wissen, was morgen sein wird. Also um diese Verletzbarkeit, diese Unwägbarkeit. Die Veränderbarkeit, die wir nicht steuern können.“

Service

Raumlicht - Remote Horizon
Andrea van der Straeten
Foto Wien
IG Bildende Kunst

Gestaltung

  • Anna Soucek

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