Gelatin-Atlas, Buch

GELATIN

Projekte einer Künstlergruppe

Gelatin ATLAS Gelitin

Für die Künstlergruppe Gelatin ist es Zeit für einen Rückblick: Das im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König erschienene Buch „Gelatin ATLAS Gelitin“ versammelt Projekte der letzten Jahre, um genau zu sein „Everything from 2008 to 2022“ laut Untertitel. Keine chronologische Abhandlung ist es, sondern ein alphabetisch nach Orten geordneter Atlas - von Antwerpen, Berlin und Buffalo bis Venezia, Wien und Zürich.

Das Buch als Kunst: Gelatin ATLAS Gelitin

Widmung im Buch

ORF/ANNA SOUCEK

Das Schaffen der letzten dreizehn Jahre umfasst das neue Buch der international tätigen, in Wien ansässigen Künstlergruppe Gelatin. Der Buchtitel „Gelatin ATLAS Gelitin“ ist kreisförmig ins Leinen-Cover gestanzt. Das Buch enthält Projekte - also Ausstellungen, Installationen, Entwürfe, Kunst im öffentlichen Raum, temporäre Interventionen und aktionistische Happenings.

In London haben Gelatin eine Betonterrasse der Hayward Gallery mit Wasser aufgefüllt und zum Rudersee umfunktioniert. In New York haben sie an acht Nachmittagen mit verbundenen Augen Skulpturen gebaut - live vor Publikum und mit großer Resonanz weit über die Kunstszene hinaus. In Rotterdam haben sie das Publikum in Nackt-Kostüme gekleidet. In St. Lorenz in der Wachau haben sie dem Donau-Ufer eine begehbare Nase aus Beton aufgesetzt. Auf dem unbewohnten Inselfelsen Rödko bei Stockholm haben sie in weißen Brautkleidern aufs Meer geschaut und sich ein Monat lang selbst versorgt. Im Venezianischen Arsenale haben sie tagelang einen Glasschmelzofen betrieben, mit Hilfe von Freunden, zu Live-Musik.

Manchmal wirken bei Gelatin-Projekten dutzende Leute aus der ganzen Welt mit - ihre Namen sind bei den Projektdaten angeführt. Geordnet sind die Projekte jedoch nicht chronologisch oder - wie im Vorgängerbuch - nach Titeln, sondern: nach geografischen Orten. „Wir können uns an die Titel der Projekte viel weniger erinnern als an die Orte der Projekte“, so Tobias Urban, und Florian Reither: „Außerdem gibt’s viele Ausstellungen, die für spezifische Orte entwickelt werden. Und Orte sind ja nicht nur Innenräume, sondern auch die Stadt rundum.“

Eine Frau sitzt auf einer Nasenskulptur

APA/GELATIN

Gebirgspanorama mit Strommast

Ein Anlass fürs Erscheinen ist die große Ausstellung im Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck letztes Jahr. Der Titel ist ein Piktogramm und daher nicht aussprechbar.
In jenem Sommer bis Herbst 2021, zwischen Lockdowns, wechselnden Bedingungen durch Covid-Schutzmaßnahmen und Turbulenzen im internationalen Kunstkalender, gelang der Künstlergruppe eine Ausstellungssensation - eine drei Ebenen und verschiedene architektonische Gegebenheiten umfassende Schau, inklusive Happening, Keramik-Gemetzel und Publikumsansturm an den Eröffnungstagen. „In unserer Ausstellung gab es eine Unterwelt und eine Oberwelt - und einen Strommasten, der aus der Unter- und die Oberwelt geragt ist. Wir haben eine Art Landschaftsbild oder Gebirgspanorama mit Strommast gemacht“, so Ali Janka.

Schellack mit Pigment auf Leinen

Ende April 2022 bei der Präsentation des Gelatin-Atlas in Wien: Auf einem selbstgebauten Tisch in Form eines Konzertflügels und mit musikalischer Raumgestaltung von Kolli Kolbein Hugi und Ossa Soliman, signieren die vier Gelatin-Künstler die Bücher. Signieren, das heißt hier nicht nur die Namen reinschreiben, sondern in jedes Buch auf den Besitzer zugeschnittene Zeichnungen. Jedes anders. Dabei sind schon die Bücher per se jedes anders, sind doch die Leinen-Einbände Unikate, wie Wolfgang Gantner schildert: In Schuhsolen haben wir unseren Namen geschnitzt, sind durch Farbe und dann über alle Buchcover gegangen. Jedes Buch hat einen anderen Umschlag.“

Schlägt man das Buch auf, öffnet sich das Inhaltsverzeichnis - kein gewöhnliches Inhaltsverzeichnis, sondern eine handgezeichnete, schematische Weltkarte, in die die einzelnen Projekte mit den entsprechenden Seitenzahlen als bunte, comichafte Skizzen eingetragen sind. „Es ist eine gute Übung, eigene Ausstellungen nachzuzeichnen“, meint Florian Reither, „da muss man sich wirklich aufs Wesentliche reduzieren.“

Bucheinsicht

GELATIN

Ausstellungsansichten und Wimmelbilder

Die Fotos sind sind klassische Ausstellungsansichten, aber auch lebhafte Schnappschüsse von Performances, von Materialschlachten, bei denen man sich das Dröhnen von Live-Musik, das Schmatzen des nassen Tones, das Quietschen von Styropor oder den Geruch von Farbe dazu denken muss.

Gelatin bei Buchpräsentation

ORF/ANNA SOUCEK

Jene Bilder, auf denen Menschen zu sehen sind - oft viele Menschen, manchmal ineinander verknotet, häufig nackig oder kaum bekleidet, gelegentlich mit Farbe oder Schlamm beschmiert - erinnern an Suchbilder. Oder an Plastilin-Collagen, wie Gelatin sie machen. Im Atlas überlagern kleine Fotos solche, die Doppelseitenseiten übergreifen; Texte gibt es kaum; die Titel sind in farbig alternierenden Buchstaben gesetzt. In dem Buch wimmelt und wuselt es, alles andere als visuelle Zurückhaltung oder konzeptuelle Langeweile.

Was übrig bleiben soll

„Jeder von uns vieren hat halt andere Ideen, wie man Bilder einbringt und eine Ausstellung nacherzählt. Es ist schon eine spannende Arbeit, sich im Nachhinein zu überlegen, was soll von einer Ausstellung in einem Druckwerk übrigbleiben? Was will man weiterretten davon?“, sagt Wolfgang Gantner. Geht es beim Herausbringen eines so dicken, dichten Buches - zweifellos ein Kraftakt für die Herausgeber - auch darum: etwas zu schaffen, das bleibt? Wenn die Farbe getrocknet und die Musik verklungen ist, die Gäste abgereist sind und die kollektive Stimmung einer Performance verschwunden ist? Florian Reither: „Es gibt ein Zitat von Loos: Wer schreibt, bleibt. Wenn man immer neue Sachen entwickelt, avantgardistisch arbeitet, ist es wichtig, immer zu dokumentieren, damit es zugeordnet und eingeordnet werden kann. Das ist schon gut.“

Service

Gelatin/Gelitin

Gestaltung

  • Anna Soucek

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