Buch mit Wiese

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

"Ex libris"-Sommerserie

55 Jahre Literatur aus Österreich

Literatur: die zuverlässigste Quelle des differenzierten Weltbilds - eine Ö1 Sommerserie mit österreichischer Literatur im Rahmen von "55 Jahre Ö1".

Gleich vorweg eine Klarstellung: Literatur gibt es nicht erst, seit es Ö1 gibt, also seit 1967. Man könnte das Motto so verstehen, wenn man aufs Missverstehen eingeübt ist. Und auch Literatur im Radio hat nicht erst mit Ö1 begonnen. Kein Medium ist geeigneter, Literatur zu vermitteln, als der Hörfunk, das hat man schon in der Anfangszeit erkannt, also ab Mitte der 1920er Jahre. Doch nach Jahrzehnten einer gewissen Ortlosigkeit hat mit der Gründung von Ö1 (die zugleich mit jener von Ö3 vonstattenging) die radiofone Literaturvermittlung und -produktion sozusagen ein Gesicht bekommen. Eine Struktur. Eine Form.

Diese Form hat sich natürlich in den 55 Jahren seither verändert. Hörspiele, Lesungen, Features, Rezensionen, Gespräche klingen heute anders als damals, aber auch als vor 40, 30 oder 20 Jahren. Es gibt Menschen, die behaupten, ein Kultursender sei seinem Wesen nach etwas Bewahrendes, etwas Konservierendes. Aber das ist natürlich Unsinn. So wie sich der Kulturbegriff wandelt, verändert sich auch der Sender.

Wenn Torberg aus "Tante Jolesch" vorträgt …

Das kann man gut an der Auswahl der Sendungen für die Ö1 Sommerserie "55 Jahre Ö1 - 55 Jahre Literatur" ablesen. Wenn Friedrich Torberg aus der "Tante Jolesch" vorträgt, steht man mit einem Bein im Österreich der Zwischenkriegszeit, also vor "Anschluss", Verfolgung, Vertreibung und Mord und damit vor der weitgehenden Auslöschung der jüdischen Kultur. Das zweite Bein steht auf dem festen Grund der Zweiten Republik, in der ein als bürgerlich eingestufter Rückkehrer, ein Holocaustüberlebender, einer sich als Opfer wähnenden Nation Anekdoten aus dem Reich der Toten präsentiert und damit seinen größten Erfolg hat. Diese eigenartige Kulturverständnis kollidierte damals, in den 1970er Jahren, im Radio mit dem Unterlaufen dieser scheinbar heiteren Aussöhnung zwischen Opfern und Tätern.

Auf unterschiedliche Weise haben Autorinnen und Autoren wie Elfriede Jelinek, Ernst Jandl, Christine Nöstlinger und Gert Jonke die verschiedenen Schichtungen der Sprache freigelegt, Kontinuitäten des Autoritären aufgezeigt, Brüche hergestellt, um überhaupt unbelastet zu neuen Formen des Dichtens und Erzählens zu gelangen. Es ging darum, einfach wieder über die eigene Sprache zu verfügen, ohne Leerstellen, ohne verschämtes Wegwitzeln belasteter Mehrdeutigkeiten.

Radio als Bühne für alle

Während die Schriftstellerinnen und Schriftsteller unterschiedlichster Weltanschauung und kultureller Einbettung sich in der Regel weder über den Verlag noch über die Orte ihres öffentlichen Auftretens in die Quere kamen und auf diese Weise Reibungen und Diskurse weitgehend ausblieben (das Ausgrenzen und Einander-nicht-argumentativ-begegnen-Wollen ist insofern keine Erfindung des Social-Media-Zeitalters), war das Radio das einzige Medium, das keine ideologische Zugangskontrolle betrieb und dem gesamten Spektrum des Literaturbetriebs eine öffentlich wirksame Bühne bot: Von Bürgerlich-Konservativem über Avantgarde und Realismus bis hin zu anarchischen Spektakeln war hier alles zu erleben. Und in den zahlreichen Gesprächsformaten wurde zumindest der Versuch unternommen, Diskurse in Gang zu bringen. Rückblickend mutet das ziemlich progressiv an, mitunter geradezu karnevalesk, wurde aber von Zeitgenoss:innen nicht zwangsläufig so verstanden.

Wie gesagt: Die Kultur verändert sich, das Radio verändert sich. Heute sehe ich das so: Während Medien sich zunehmend auf unterkomplexe Affektstimulierung konzentrieren und der Literatur die Aufgabe abgenommen haben, Dystopien zu entwerfen und "in einfacher Sprache", wie es so schön heißt, den Menschen sämtliche Hoffnungen abzuräumen, erweist sich die Literatur als zuverlässigste Quelle des differenzierten Weltbilds. Und wo, wenn nicht im Radio, wird davon ein Lied gesungen?

Gestaltung

  • Peter Zimmermann