Notenblätter und Schlegel

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Zeit-Ton

Lange Nacht der neuen Musik

Ein neuer Geist für Salzburg und die Welt: Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) feiert ihr 100-Jahr-Jubiläum.

"Wenn wir in früheren Jahren in unseren Ferien nach Mitteleuropa kamen, um Musik zu hören, so gingen wir nach Bayreuth oder München und sättigten uns mit Wagner oder Mozart. Der neue Geist ist viel abenteuerlicher. Er geht nach Salzburg, nicht um Musik zu hören, die er liebt und kennt, sondern um Musik zu hören, die er nicht kennt, in der Hoffnung, dass etwas davon wert sein möchte, geliebt zu werden. Ein bewundernswerter Geist, in der Tat!"

Dies schrieb einer der einflussreichsten Musikkritiker Großbritanniens, Ernest Newman, im Jahr 1923. Ein Jahr zuvor war in Salzburg ein visionäres Projekt gegründet worden, das mit den "Internationalen Kammermusikaufführungen" während der Festspiele 1922 seinen Anfang nahm. Ausschließlich zeitgenössische Werke standen an diesen Augusttagen im Großen Saal des Mozarteums auf dem Programm, von Komponisten aus 15 Nationen. Es war die erste internationale kulturelle Veranstaltung seit dem Ersten Weltkrieg, angeregt und organisiert von einem kleinen Kreis Wiener Musiker, allen voran den Komponisten Rudolf Réti und Egon Wellesz.

1923 - Erstes Musikfest der IGNM

Beflügelt vom Erfolg dieser Unternehmung kam es am 11. August 1922 im Café Bazar zur Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Anwesend waren u. a. die Komponisten Paul Hindemith, Béla Bartók, Anton Webern und Darius Milhaud sowie, als einzige Frau, die Britin Ethel Smyth. Mit der IGNM sollte zeitgenössisches Musikschaffen gefördert werden, "ohne Rücksicht auf ästhetische Anschauungen, Nationalität, Rasse, Religion oder politische Einstellungen", wie es in den bis heute gültigen Statuten heißt. Es bildeten sich Ländersektionen und ein Dachverband in London. 1923 fand in Salzburg das erste Musikfest der IGNM statt. Seitdem werden die Treffen (heute: Weltmusiktage) jährlich in einem anderen Mitgliedsland veranstaltet.

Der Schweizer Musikwissenschafter Anton Haefeli sieht einen gewissen Bedeutungsverlust der IGNM nach dem Zweiten Weltkrieg (in der NS-Zeit war die Organisation in den besetzten Ländern verboten) - so habe die IGNM ihre Rolle als musikalischer Impulsgeber verloren und Entwicklungen wie den Aufstieg der seriellen Musik in den 1950er Jahren außer Acht gelassen. Nachhaltige Ereignisse gab es in der späteren IGNM-Geschichte jedoch einige, mit Uraufführungen von Werken, die heute als Klassiker der Neuen Musik gelten - etwa Karlheinz Stockhausens "Kontakte" und Pierre Boulez’ "Pli selon pli" beim Musikfest 1960 in Köln oder Friedrich Cerhas epochaler Orchesterzyklus "Spiegel I-VII" in Graz 1972.

2023 erstmals in Afrika

Im Jahr 2022 ist die heute auf Englisch International Society for Contemporary Music genannte Organisation in mehr als 40 Ländern vertreten. Die ISCM World New Music Days 2022 finden Ende August in Neuseeland statt. Eine Premiere gibt es 2023, wenn das Festival erstmals auf dem afrikanischen Kontinent zu Gast ist, im südafrikanischen Johannesburg. Seit 2019 amtiert mit der Neuseeländerin Glenda Keam die erste Frau als ISCM-Präsidentin.

Text: Philipp Weismann