Norbert Gstrein

OLIVER WOLF

Roman von Norbert Gstrein

"Vier Tage drei Nächte"

2019 gewann Norbert Gstrein mit seinem Roman "Als ich jung war" den Österreichischen Buchpreis, erst im Mai dieses Jahres wurde ihm als einem der, Zitat, "virtuosesten deutschsprachigen Erzähler der Gegenwart", der mit 25.000 Euro dotierte Thomas-Mann-Preis verliehen. Jetzt ist sein neuer Roman "Vier Tage drei Nächte" erschienen, der sich ausgehend von einer Bonnie-Tyler-Liedzeile durch die derzeit laufende identitätspolitische Debatte erzählt.

Das Setting ist schnell erklärt. Drei Personen, eine Airbnb-Wohnung in Berlin, gemeinsam will man die Weihnachtsfeiertage verbringen, draußen herrscht Lockdown.

Unheimliche Erzählstimme

Bei den Dreien handelt es sich um den Tiroler Hotelierssohn Elias, seine Halbschwester Ines und Elias Freund Carl. Der Erzähler ist Elias selbst, doch stellt sich nach und nach ein leichtes Unbehagen ein, ein Gefühl, dass man ihm nicht so ganz trauen kann.

"Mich treibt dieses Experimentieren mit unzuverlässigen, tatsächlich auch unheimlichen Ich-Erzählern immer weiter, auch in einer möglichen Erkundung, was den Wahrheitsbegriff in der Literatur betrifft", verrät Norbert Gstrein.

Immer wieder breche ich auseinander

Die Situation ist spannungsgeladen, denn die Beziehung zwischen den Geschwistern ist fast inzestuös, außerdem wird Ines von einem Ex-Lover gestalkt, der immer wieder anruft, oder überhaupt mit dem Auto vor dem Haus steht. Statt mit dem Ex zu sprechen, singt Ines ihrem Halbbruder aber lieber den 80er-Jahre Rockhadern von Bonnie Tyler "Total Eclipse of the Heart" vor, mit der zentralen Liedzeile, die Norbert Gstrein auch an den Anfang seines Romans gestellt hat: "Every now and then I fall apart", lautet die, ums Auseinanderbröseln einer Person geht es da also.

"Der Erzähler sieht das aber nicht als etwas Problematisches", so Gstrein, "sondern als etwas geradezu Triumphales. Man könnte da auch einen Kommentar zu all diesen identitätspolitischen Diskussionen sehen, die einen auf etwas festzunageln versuchen; man ist aber nicht festnagelbar."

Buchumschlag

HANSER VERLAG

Irreführende Mutmaßungen

Mit Carl verbindet Elias ein, wenn auch loses, so doch leidenschaftliches Liebesverhältnis. Als die drei sich den Lockdown durch Geschichtenerzählen verkürzen wollen, steht schnell das Thema fest: Um die erste Liebe soll es gehen und Gstrein lässt jede seiner Figuren in einem eigenen Kapitel erzählen. Erst in Carls Erzählung stellt sich da heraus, dass es sich bei ihm um einen Schwarzen handelt.

"Das war eine meiner Grundprämissen", so Norbert Gstrein, "dass ich eine Figur in dieser Weise einführen wollte: Einen amerikanischen Flugbegleiter, von dem mutmaßlich angenommen wird - auch weil es sich um einen Roman von mir handelt -, dass es um einen Weißen geht."

Stimme nehmen oder geben

In seinem Carl-Kapitel erzählt Gstrein nicht nur aus der Perspektive eines Schwarzen, sondern hat dessen Geschichte auch auf Englisch verfasst.

"Habe ich mir da etwas angeeignet, oder habe ich umgekehrt jemandem eine Stimme gegeben?", sei die Frage, der er sich gerne stellen wolle, so Gstrein. "Ich neige zur zweiten Antwort, aber ich bin natürlich gewillt, mir die anderen Antworten anzuhören."

Die Weite einer Airbnb-Wohnung

Von seinem Schreibansatz her sieht sich Gstrein als amerikanischen Erzähler. Nach dem Lesen seines neuen Romans "Vier Tage drei Nächte" kann man diese Selbsteinschätzung mit gutem Gewissen unterschreiben, denn Gstrein vertraut auf seine Figuren und nicht auf seine Themen. Und so wundert man sich, wenn man das Buch zuklappt, durch wie viele unterschiedliche Landschaften man auf dieser wilden Reise gekommen ist, obwohl man die Airbnb-Wohnung in Berlin kaum verlassen hat.

Service

Norbert Gstrein, "Vier Tage drei Nächte", Roman, Hanser

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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