Norbert Gstrein

OLIVER WOLF

Roman von Norbert Gstrein

"Der zweite Jakob"

In seinem neuen Roman erzählt Norbert Gstrein von einem Schauspieler, der vor seinem 60. Geburtstag steht und mit den Verfehlungen seines Lebens zu kämpfen hat.

Der 1961 in Tirol geborene und heute in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein gilt als eleganter und anspruchsvoller Stilist: Seine Sätze können sich über halbe Seiten erstrecken, und dennoch sind sie klar und präzise. Gstrein ist ein intellektueller und zugleich sinnlicher Autor, der zwischenmenschliche Untiefen mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu verbinden weiß, wie er das zuletzt in seinen vielgelobten Romanen "Die kommenden Jahre" und "Als ich jung war" getan hat. Darin geht es um Identitätskrisen und Ehekrisen, aber auch um politische Herausforderungen wie etwa die Migrations- und Klimamisere. Das alles wird mit Fingerspitzengefühl erzählt, ohne die Widersprüche und Verlogenheiten in diesen Themenfeldern auszusparen.

Wie ein Pfau musste ich mich ausstopfen lassen

Als Schauspieler hat Jakob, der in einer schönen und großen Wohnung über den Dächern Innsbrucks lebt, viel erreicht, und zwar nicht nur auf deutschsprachigen Bühnen, sondern auch in amerikanischen Filmproduktionen. Jetzt steht ein runder Geburtstag bevor, der ihn stark beunruhigt, weil nur noch von seiner Vergangenheit die Rede ist und das Leben als mehr oder weniger abgeschlossen erscheint.

Gehender Mensch gespiegelt

HANSER

Norbert Gstreins Roman "Der zweite Jakob" ist im Hanser Verlag erschienen

Kaum zu glauben & verstörend "realistisch"

"Natürlich will niemand sechzig werden, jedenfalls nicht als Jubilar, und natürlich will niemand, der bei Sinnen ist, ein Fest, um das auch noch zu feiern, aber obwohl ich alles drangesetzt hatte, es zu verhindern, war ich in die erwartbaren Abläufe geschlittert und musste mich am Ende wirklich als bedeutender Künstler, verdienter Bürger, und was dergleichen sonst für Würdigungen kurz vor dem Grabstein und kurz vor dem Vergessen stehen, ganz nach dem Geschmack des Publikums wie in Pfau ausstopfen lassen."

Dass es genau so oder noch viel schlimmer kommen wird, ahnt man schon zu Beginn des Romans, und dennoch ist das, was Norbert Gstrein in "Der zweite Jakob" erzählt, dermaßen überraschend, dass es einerseits kaum zu glauben ist, dann aber auch verstörend "realistisch" wirkt. Der Ich-Erzähler wird sich mit den Untiefen seines Lebens befassen müssen, auch wenn er das eigentlich nicht mag, und der schlingernde und verzweifelte Rückblick wird nicht zuletzt durch die eigene Tochter befördert, die ihren Vater ständig fragt: "Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?"

Katastrophe beim Wüstentrip

Das weiß der Protagonist, der zwischen Scham und Trotz schwankt, natürlich ganz genau, aber er rückt nur scheibchenweise mit den persönlichen Niederlagen und katastrophalen Zufälligkeiten heraus, mit kleineren Vergehen und schließlich auch mit einer Tat, die strafrechtliche Relevanz hatte. Während einer internationalen Filmproduktion im Grenzgebiet von Texas und Mexiko kam es jedenfalls zu einem tödlichen Unfall, und die Ereignisse, die fünfzehn Jahre vor der Erzählgegenwart spielen, haben Jakob offenbar traumatisiert. Mitten in der Nacht war er mit seiner Schauspielkollegin Xenia unterwegs, die ihr aufbrausendes Temperament mit langen Autofahrten durch die Wüste und zu viel Alkohol unter Kontrolle zu bringen versuchte. Auf einem dieser seltsamen therapeutischen Wüstentrips tauchte dann am Straßenrand eine spärlich bekleidete Frau auf.

Ein sehr spezifischer Knall

"Es gab einen dumpfen Knall, gar nicht einmal so laut und gar nicht einmal so heftig, aber doch einen sehr spezifischen Knall, von dem ich eine Zeitlang, als ich den Vorfall nicht und nicht aus meinem Kopf zu tilgen vermochte, nicht abzubringen war, das er anders geklungen hätte, wenn er von einem Tier gekommen wäre und nicht von einem Menschen."

Nur die Tochter soll es erfahren

Die Frau starb noch am Unfallort, und anstatt die Polizei zu rufen, ließen Xenia und Jakob die Leiche am Straßenrand liegen und rasten davon, um dann am nächsten Tag wieder vor der Kamera zu stehen. Aggressiv und unheimlich ist die Stimmung am Set, Fiktion und Wirklichkeit sind nur schwer auseinanderzuhalten. Norbert Gstrein beschreibt die Szenen im gesättigten Multicolor, als befinde man sich in einem Werk von US-Regisseur David Lynch.

Der Film im Roman hingegen wird zum großen Reinfall. Jakob aber wird die Erinnerungen an die Dreharbeiten nicht los, und in gewisser Weise ist er sogar froh, der Tochter die Fahrerflucht zu gestehen. Nur die Öffentlichkeit soll nichts von dem Drama erfahren, denn Jakob befürchtet, niemand werde ihm glauben, damals nur Beifahrer gewesen zu sein. Immerhin habe er "auffallend oft Bösewichter gespielt und in drei Fällen Frauenmörder".

Geschicktes Spiel mit Ressentiments

Norbert Gstrein weiß sehr geschickt mit Ressentiments zu spielen, aus der sich schnell mal mediale Hetzkampagnen entwickeln können. Seine Figuren aber sind weder gut noch wirklich böse, leben grundsätzlich in moralischen Grenz- und Zwischenbereichen, in denen Wahrheit und Lüge eng verwoben sind. Dem narzisstischen Schauspieler ist jedenfalls nicht zu trauen, auch wenn er im Laufe des Romans immer neue Episoden aus seinem Leben verrät, etwa eine bedrückende Krankheits- und eine berührende Liebesgeschichte.

Der ästhetische Clou besteht nun darin, dass der Roman sich zu einer recht vollständigen Biografie des Schauspielers entwickelt, was einem neugierigen Lohnschreiber namens Elmar Pflegerl nicht gelingen wird. Der möchte zwar ein Buch über den berühmten Jubilar veröffentlichen, wird aber genauso scheitern wie Jakob selbst, der zeitweilig nicht nur seine berufliche Existenz, sondern seine ganze Identität auszulöschen plant.

"Im Augenblick konnte ich mir nicht vorstellen zu spielen, und zum ersten Mal nahm ich den Gedanken ernst, überhaupt damit aufzuhören, und nicht nur damit aufzuhören, sondern die Spuren, die von mir in der Welt existierten, zu verwischen, ja, wenn möglich, auszulöschen, so schwierig das gestalten würde."

Verfolgt von der Herkunft

Mit dem Motiv der Auslöschung verweist Norbert Gstrein in seinem verwegenen Identitätsthriller selbstverständlich auf Thomas Bernhard, doch anders als beim österreichischen Kollegen geht es Gstrein in letzter Konsequenz eben nicht um die Vernichtung einer Biografie aus persönlichen oder politischen Gründen, sondern um die Rettung einer Figur. Auf verschlungenen Wegen, die durch emotionale Höllentäler führen, findet Jakob nämlich zurück zu seinen biografischen Wurzeln. Seine Herkunft aus einem kleinen Bergdorf in den Alpen hat ihn ein Leben lang verfolgt. Er will nicht länger mit einer Familie verbunden sein, deren Wohlstand auf einer durchtriebenen Zockermentalität und jahrelangem Steuerbetrug begründet ist. Die Flucht vor der eigenen Herkunft aber wird schließlich zur Lebenslüge, die auch die eigene Tochter durchschaut.

Du verzeihst dir nicht, einer von ihnen zu sein, weil du glaubst, dass dich draußen in der Welt deshalb alle für einen Barbaren halten.

So sehr Jakob die Eltern und Großeltern verachtet, so verlogen geht er mit dem Schwarzgeld aus dem Hotelbetrieb der Familie um. Die vielen Scheine, die ihm die Großmutter zusteckte, sind nämlich für den älteren, geistig verwirrten und gleichnamigen Onkel bestimmt. Der erste Jakob versteckt sich seit Jahrzehnten in den Kellern des Dorfs, taucht eine Zeitlang wieder auf und säuft sich durch die Hotelbars des prosperierenden Skiortes. Der zweite Jakob ignoriert den ersten, der lange im Mittelpunkt der Familie stand, und in einem wirklich herzergreifen Finale treffen die beiden wieder aufeinander.

Elaborierte und elegante Sprache

Was einem bei der Lektüre dieses so intensiven Romans den Atem verschlägt, ist nicht nur der gekonnte Wirbel mit den Identitätsdiskursen unserer Zeit, sondern auch die biografische Dringlichkeit. In einem Zeitungsartikel hatte Gstrein vor einigen Jahren die Geschichte des zweiten Jakobs schon mal erzählt. Der Autor hat ganz Ähnliches erlebt. Ihm wurde von Seiten der Familie sogar vorausgesagt, es werde mit ihm genauso schlimm enden wie mit dem "komischen" Onkel. Es ist ein schmerzhafter Fluch, dem Gstrein nicht zuletzt durch sein schriftstellerisches Werk zu bannen versucht. Wenn er seinen zweiten Jakob sagen lässt, er sei "nie etwas anderes als ein Kind im Winter gewesen, das Wärme nur aushielt, wenn es davor lange genug in der Kälte sein konnte", dann ist das wohl nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz konkret autobiografisch gemeint.

Trotzdem wäre es ein Fehler, diese Prosa vor allem als Autofiktion zu lesen. Gstreins Kunst besteht letzten Endes doch weniger in der Rekonstruktion einer Biografie, sondern vielmehr in einer elaborierten und eleganten Sprache, in herrlich artifiziellen Satzkaskaden, die allein schon formal eine große Distanz zur dörflichen Herkunft ihres Schöpfers ausdrücken. Diesem Schriftsteller, der genau das Gegenteil von einem Heimatdichter ist, muss wohl niemand eine Biografie zum sechzigsten Geburtstag schreiben. Die Chuzpe seines neuen Werks besteht aber auch darin, diesem leidigen Eventualfall, der sich mit dem 60. Geburtstags des Autors im Frühsommer durchaus ergeben könnte, auf bestürzend offenherzige und zugleich ästhetisch berauschende Weise vorgebeugt zu haben.

Service

Norbert Gstrein, "Der zweite Jakob", Roman, Hanser Verlag, München 2021, 447 Seiten

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