
AP/YASUSHI KANNO
Kulturjournal
Dekolonisierung der Architektur
In unserer gebauten Umwelt manifestieren sich Machtverhältnisse, ob wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche. Daher ist auch die Architektur nicht gefeit davor, Augenmerk zu legen auf das Vermächtnis der Kolonialgeschichte. Segregation und Rassismus äußern sich in der Gegenwart etwa darin, welche Architekturen wem zugänglich sind - und wer draußen bleibt.
7. Oktober 2022, 02:00
Nachdem anglo-amerikanischen und dem frankophonen Raum, hat die Bewegung der Dekolonisierung auch im deutschsprachigen Raum Fuß gefasst. Akademische Einrichtungen klopfen ihre Lehrpläne auf koloniale Denkmuster ab, ethnografische Museen untersuchen die Provenienzen ihrer Sammlungen, es gibt erste Restitutionen aus deutschen und französischen Sammlungen an afrikanische Herkunftsländer von in Kolonialzeiten geraubten Kulturgütern.
Und auch in der Architektur und im Urbanismus gibt es - ausgehend von den Kunstuniversitäten - erste dekoloniale Bestrebungen. Die Spuren kolonialer Herrschaft werden sichtbar gemacht, und deren Auswirkungen auf das Zusammenleben in der Stadt heute untersucht. Selbst in Österreich.
Export von Weltanschauungen
Was in der Kunstwelt seit Jahren ein Thema ist, erreicht mit einiger Verspätung nun auch die Architektur: die Debatte über den Umgang mit kolonialistischen Aspekten der Architektur und des Städtebaus, mit Rassismus, Segregation und Exklusion. Das betrifft die Bauwirtschaft, indem etwa hinterfragt wird, woher Baumaterialien kommen, etwa Sand für Beton, unter welchen Arbeitsbedingungen sie gewonnen werden, und wer die ökologischen Folgen der Bautätigkeit zu tragen hat.
Auch das ArchitekturZentrum Wien (AzW) will sich des Themas annehmen, etwa indem im globalen Süden errichtete Bauwerke österreichischer Architekten, wie Anton Schweighofer, Roland Rainer, Ottokar Uhl oder Hans Hollein neu betrachtet werden. "Was bedeutet das jetzt?", fragt sich die Sammlungsleiterin des AzW, Monika Platzer. "Das kann man nicht mehr nur als Export oder Transfer einer Moderne sehen, sondern da werden ja auch Weltanschauungen transportiert. Das sind für uns sehr spannende und sehr wesentliche Themen, an denen wir gerade dran sind."
Monika Platzer ist mit Regine Heß und Christian Fuhrmeister Herausgeberin einer Ausgabe der "kritischen berichte" - einer Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften - zum Thema "Rassismus in der Architektur". Sie versammelt Stimmen von Aktivistinnen, Künstlern, Wissenschaftlern und Theoretikerinnen zu Beispielen aus der Geschichte und der Gegenwart.
Gebaute Ungleichheit
Wer hat Zugang zu leistbarem Wohnraum? Wer hat Anspruch auf den öffentlichen Raum? In welcher Qualität wird dieser gebaut? Wie bildet sich soziale Ungleichheit in der Stadt ab? Und wie kann die gebaute Umwelt der Ungleichheit entgegenwirken? Das sind Fragen, um die die Debatte kreist - und da braucht man nicht einmal eine Geschichte als Kolonialmacht haben, denn es sind Fragen, die sich auf alle Gesellschaftskonstellationen anwenden lassen.
Warum sich diese Fragen stellen? Die Architektin und Kulturwissenschafterin Marlene Rutzendorfer: "Weil wir historisch auch davon profitiert haben und immer noch von den Ungleichheiten profitieren. Es ist wichtig zu verstehen: Woher kommen diese Ideen? Ideen von Rassenhygiene, von Hierarchisierung, von Systemen, die auf eine Kontrolle abzielen, auf eine Zuteilung bzw. auch Abwendung von Ressourcen, auch räumlicher Ressourcen, auf eine Kategorisierung, eine Markierung, eine Zuschreibung von Eigenschaften, eine Klassifizierung, nicht nur Objekten, sondern auch Menschen. Woher kommt das alles? Und welche Kontinuitäten gibt es danach und wo? Welche realen Bedingungen existieren noch? Auch räumlich und urban, im Sinne von Segregation oder im Sinne von Repräsentation."

Überflutetes Jakarta
AP/DITA ALANGKARA
Eine im Wasser versinkende Kloake
Marlene Rutzendorfer nennt ein konkretes Beispiel, welche Auswirkungen die Baumaßnahmen einer Kolonialmacht auf die einst beherrschte Gesellschaft haben kann, heute und in Zukunft: Jakarta in Indonesien. Hier haben die Niederländer nicht nur eine systematische Trennung der einzelnen Stadtviertel anhand von Ethnien und Rasse vorgenommen, sondern auch das ihnen vertraute Grachten-System gebaut. Beides führt gerade - angetrieben vom Klimawandel - zur Katastrophe: die Stadt versinkt. "Die regierende Kolonialmacht, die weiße Kolonialmacht ist dann ins Innere des Landes gezogen und hat sich dort Frischwasser-Leitungen gebaut. Die Bevölkerung, die in der Stadt geblieben ist und die auch in einzelnen Sektoren segregiert war, musste Brunnen bauen. Also Wege finden, um an Grundwasser zu kommen. Durch dieses Abpumpen und die geografische Gegebenheit ist über die Jahrhunderte hinweg der Boden immer weiter gesunken." Und so sind die baulichen Veränderungen der Kolonialmacht mit Schuld daran, dass die Stadt heute besonders mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen hat: Denn das niederländische Modell war für die ökologischen Gegebenheiten nicht geeignet."
Marlene Rutzendorfer hat an der Akademie der bildenden Künste einen Kurs mit dem Titel "Den Kanon Dekolonisieren - Counter Archive und Architektonische Praxis" unterrichtet. Einen Master-Lehrgang zu "Decolonising Architecture" bietet die Königliche Kunstakademie in Stockholm an. Geleitet wird er von der schwarzen Architektin Marie-Louise Richards: "Ich lege meinen Studierenden nahe, bei der Wahl ihrer Fallstudie über ihre eigene Position nachzudenken und sich in ihrem unmittelbaren Umfeld umzuschauen. Sie sollen etwas wählen, das ihrer eigenen Erfahrung entspricht, auch wenn sie zunächst vielleicht denken, das sei langweilig. Tatsächlich kann man viel über seine eigene Geschichte lernen, wenn man Dinge hinterfragt, die man für selbstverständlich und unwichtig gehalten hat."
Auf Spurensuche in Asmara und Stockholm
Im letzten Studienjahr wurde an der Kunstakademie in Stockholm zum Beispiel das Architekturerbe des italienischen Faschismus in Eritrea untersucht - das Land im Nordosten Afrikas war von 1890 bis 1941 eine italienische Kolonie, und Mussolini ließ die Hauptstadt Asmara im Stil der klassischen Moderne ausbauen. "Die Machstrukturen der Vergangenheit prägen unsere Gegenwart und Zukunft. Um zu verstehen, wer wir sind und welche Herausforderungen es gibt, um Lösungen für unsere Gesellschaft zu finden, müssen wir die Vergangenheit verstehen. Die Schwierigkeit an problematischen Episoden der Geschichte ist, dass wir sie lieber vergessen wollen, da sie schmerzhaft und gewaltvoll waren - aber wir müssen uns dem stellen. Wie prägen die Muster der Vergangenheit unser Leben heute? Und wie können wir die Muster ändern? Das sind wichtige Fragen."
Marie-Louise Richards hat sich in einem Kurzfilm mit einem Stadtentwicklungsgebiet ihrer Heimatstadt Stockholm befasst. Mit dem zentralen Gebäude der Bananen Kompanie war der Hafen ein Umschlagplatz für den Handel mit der Karibikinsel Saint Barthelemy, gut ein Jahrhundert lang eine Kolonie Schwedens. Im Hafengebiet entstehen derzeit tausende Wohnungen für gutsituierte Menschen. Eigentlich seien sie es, die sich separieren - nicht die Bewohner der verarmten Vorstädte, denen dies oft vorgeworfen wird. "Ein Blick in die Geschichte der Segregation lehrt uns, dass es eigentlich um die Bildung von Enklaven für die Privilegiertesten ging. Nicht um urbane Ghettos für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen. Schon das Ghetto von Venedig sollte dem Ausschluss dienen und dem Schutz der Privilegierten. Diese Funktion ist unserer Sichtweise auf Städte inhärent - und wir hinterfragen die Sichtweise erst, wenn es Probleme gibt. Und wenn wir nicht durchschauen, woher die Probleme stammen, dann können wir sie auch nicht lösen."
Am Sprung in den Mainstream?
Sie befassen sich mit der Ungleichheit in Städten und wirken dieser mit konkreten architektonischen Projekten entgegen: einige schwarze Architektinnen, Forscher und Theoretikerinnen haben in den letzten Jahren wichtige Aufträge, Preise und Funktionen erhalten: zu nennen sind etwa der amerikanische Künstler Theaster Gates, der deutsch-burkinische Architekt Francis Kéré, der britische Architekt David Adjaye oder die designierte Leiterin der nächsten Architekturbiennale, Lesley Lokko. Ist die Anerkennung durch Institutionen als Zeichen für einen Paradigmenwechsel zu werten?
Die Architekturhistorikerin und AzW-Sammlungsleiterin Monika Platzer: "Ich glaube, dass das ganz wichtig ist. Nur es muss selbstverständlich werden. Es soll nicht als Alibi verstanden werden und jetzt nur einmalig, dass schwarze Menschen sichtbarer werden und Preise bekommen. Das muss einfach zum Mainstream werden. Genauso wie Gender-Fragen oder die Debatte um die Exklusion von Migranten."
Und die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Marlene Rutzendorfer meint: "Die substanzielle Arbeit, die findet ja schon seit Jahrzehnten statt. Jetzt zeigen diese unterschiedlichen Institutionen eine erhöhte Aufmerksamkeit. Das Wichtige ist, dass es eben nicht nur temporär ist, sondern wirklich eine längerfristige strukturelle Änderung bewirkt, ein Aufbrechen alter Strukturen und dann ein gemeinsames Aufbauen neuer Strukturen."
Service
Die Publikation über "Rassismus in der Architektur" ist in der Reihe "kritische texte" im Jonas Verlag erschienen. Herausgegeben von Regine Heß, Christian Fuhrmeister und Monika Platzer.
Lehrgang "Decolonizing Architecture" in Stockholm
Marie-Louise Richards
AzW - Filmsommer: Decolonizing Architecture
Gestaltung
- Anna Soucek