Text/Bild-Collage, Pinnwand im Atelier der Autorin

SARAH RINDERER

Ö1 Kunstgeschichten

Ein Flaggensignal für Hannah Weiner

Eine junge Künstlerin reist nach Barcelona, doch die Freude über den Aufenthalt hält nicht lange an, denn Covid 19 bedeutet Sperrstunde ab 22 Uhr. Aber dann entdeckt sie Hannah Weiners künstlerisch gestaltete Flaggensignale. Lassen sich damit Verbindungen herstellen? Auch über 34 Jahre und zwei Kontinente hinweg? Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

Geschätzte Hannah,
erst den Antwortwimpel, dann das Einflaggensignal hissen:
"I wish to communicate with you."
Ich möchte mit dir Verbindung aufnehmen.

Lunge Frau mit braunen Haaren und roter Bluse

JONAS JUFFINGER

Sarah Rinderer veröffentlichte Lyrik und Prosa in verschiedenen Literaturzeitschriften und Anthologien. 2020 konnte sie mit einem Stipendium des Landes Vorarlberg einen Studienaufenthalt in Barcelona verbringen.

Ich habe den Anfang verpasst. Kurz, nachdem ich auf "Vollbild, Play" geklickt habe, hektisches Flügelschlagen. Eine Taube, die auf der Trennwand zum nächsten Atelier landet. Ihre Füße auf weiß gestrichenem Spanholz. Meine nackten Fußsohlen auf dem staubigen Boden der ehemaligen Fabrikshalle, als ich ihr das raumhohe Fenster öffne. Von draußen mischen sich die Geräusche der Hafenstadt ins Summen des Ventilators. Aber die Taube hat mich nur angesehen mit ihren roten Augen, Kopfrucken vor und - zurück auf dem Drehstuhl vor dem Laptop, warst du schon mitten in der Performance deiner "Semaphore Poems".
Ich setze die Kopfhörer auf. Starte Barbara Rosenthals Video von dir noch einmal neu. "Vollbild, Play". Weiße, abgerundete Buchstaben: "Semaphore Text and Performance": Leerzeile "Hannah Weiner". Dann lautes Wildvogelzwitschern.
Wir sehen uns das erste Mal hinter einer Trennwand aus Bildschirmglas. Ich kann dein Gesicht nicht erkennen, nur, dass du in meine Richtung siehst. Weit hinten auf einem Feld vor Wald, in Shorts und T-Shirt - beides hell und weit -, in jeder Hand eine quadratische Flagge. Zu Beginn hältst du beide unten vor deinem Körper übereinander. Dann Heben und Senken deiner nach beiden Seiten ausgestreckten Arme: Achtung. Hektisches Flügelschlagen, als die Taube auf-, am geöffneten Fenster vorbeifliegt, weiter ins nächste Atelier.

Vielleicht muss ich anders anfangen. Wir sind uns schon begegnet. Vor - hinter einer Trennwand aus Papier. Ich tendiere dazu, wir zu sagen, dabei befinden wir uns von mir aus gesehen in Peilung 269,33° West 3326 Seemeilen voneinander entfernt. 34 Jahre liegen zwischen dem Sommer auf dem flimmernden Feld im Video und dem Sommer, indem ich hier dein Buch aufschlage. Die Sammelausgabe deiner Texte als ein offenes Haus, in dem ich wie in der Hafenstadt für eine Zeit wohnen, ein Atelier beziehen kann.
Wir schreiben grundverschieden, oft nicht einmal in derselben Sprache. Aber uns verbinden das Frau-, das Zwischen-Literatur-und-Kunst-Sein. Oder kleine Dinge, wie, dass du von Barbara ein Lines-a-Day-Tagebuch geschenkt bekommen hast – wie ich von meiner Freundin. Ganz nah sind wir uns in Fernsignalen: im Flaggen-, Blinksignalisieren, im Sprechfunk, Schall-, Lichtmorsen, im Winkern.

Sabine Lorenz

FELICITAS DARSCHIN

Sabine Lorenz arbeitet seit 1998 als freischaffende Schauspielerin, Autorin, Sprecherin und Regisseurin. Schon im zweiten Jahr ihres Schauspielstudiums in München wurde sie mit dem Lore-Bronner-Preis ausgezeichnet. Sie ist nicht nur Theaterdarstellerin, sondern spielt auch in vielen ARD-, ZDF- und Kinoproduktionen. Als Autorin verfasst sie Film- und Romanadaptionen für die Bühne und schrieb u.a. das Drehbuch zu ihrem Kurzfilm "anna inside/out", bei dem sie auch Regie führte.

Ich beuge mich näher zum Bildschirm. Du in der immerselben Einstellung. Deine Flaggen von mir aus gesehen: rechts senkrecht nach oben, links schräg nach oben. Keine Untertitel. Auch im Beschreibungstext steht nicht, welche Nachricht du im Winkeralphabet in die Sichtweite sendest. Links waagrecht. Links schräg nach unten.
In einem neuen Browser-Fenster suche ich nach Bildern des Winkeralphabets. Gezeichnete Männer mit Matrosenmützen, die die Armhaltungen der einzelnen Buchstaben zeigen. Muss ich mir später ausdrucken.
Du machst eine sich öffnende Geste nach schräg rechts oben. Links senkrecht nach unten. Auf den schwarzen Wellen der Tischplatte beginne ich auf losen Zetteln zu notieren. "Tango. Oscar?" Nein, doch "Hotel. Echo". Es wird Zeit brauchen, dich zu verstehen. Du forderst von mir ein: das auszuhalten. Hier in der Hafenstadt fällt mir auf, dass die Leute kaum Geduld für meine Worte in der neuen Sprache haben, durch mehrere Lagen Spinnvlies hindurch. Nach ein paar meiner Versuche wechseln sie einfach zu Englisch.
Beide Flaggen in Überdeckung unten vor deinem Körper. Ich notiere: "Unterbrechung".

Reprise: Bei mir hat alles mit einem losen Hafen mitten in der Stadt angefangen. Mit einer schiffsähnlichen Konstruktion aus Stahl, die wir als Gruppe von Kunststudierenden im Sommer vor drei Jahren für eine Ausstellung bespielen durften. Mit der Frage, wie auf See über Distanz kommuniziert wird: von Schiff zu Schiff, von Schiff zu Küste, vom einen zum anderen Ufer. Noch immer gefällt mir die Idee des internationalen Signalbuchs, das "For-the-Use-of-all-Nations", das poetisch-politische in den Farben, Geräuschen, Gesten des Über-Distanzen, -Grenzen, und Sprachbarrieren hinweg. Aber das klingt so leicht.

Ich würde gerne mit dir Verbindung aufnehmen, doch mir fällt es schwer, den richtigen Anfang dafür zu finden. In unserem Bildschirmgegenüber ist alles leicht unscharf, ein wenig heller an den Rändern. Feine, sich bewegende Strukturen, Bildstörungen, -fehler - wie Wellen. Farbtonartefakte. Ein Hauch von orange, violett, pink? Ich habe Angst, dass mir das hier auch passiert: dass ich sie fehlinterpretiere, deine Farbträger- und Helligkeitssignale.

Liebe Hannah.
Spruchanfang: Strich. Punkt. Strich. Punkt. Strich.

Ich habe mir gedacht: Mit internationalem Signalbuch lässt es sich gut beginnen an einem Ort, dessen Sprache ich nicht spreche. Aber im zweiten Pandemiesommer ist die Hafenstadt voller Enden: kaum genutzte Nachbarateliers, geschlossene Ticketschalter, Markthallen mit heruntergelassenen Jalousien, Brunnenanlagen ohne Wasser. Ich auf ansonsten menschenleeren Flimmerflächen, nur Tauben auf Statuenköpfen: Die Stadt wie ein mir zu weites Kleidungsstück.
Abends ab 22 Uhr Sperrstunde. Funkstille. Kein Foxtrot, kein Tango. Nur Echos.

11. Juli 1987: Du und Barbara bei der Hudson Guild Farm in Andover, New York. Wie jeden Sommer seit ein paar Jahren für eine Zeit weit raus aus der Stadt. Nur ein Briefkasten, wo die Straße einige Kilometer vor der Farm abzweigt. Ein guter Ort, um Ideen zu teilen, in Konferenzen, Workshops. Ich stelle mir vor, ihr mehr unter euch. Ihr teilt die Idee einer Reprise deiner frühen "Code Poems" in Flechtstühlen, an den Ufern der vielen kleinen Seen, in der Weite der Felder. Hast du zu diesem Zeitpunkt schon Worte gesehen? An Barbaras Hand am Camcorder? Oder zwischen den niedergetretenen Halmen, als du die Distanz zwischen euch vergrößerst, dorthin läufst, wo die Wiese in den Wald übergeht, die zusammengerollten Flaggen in der Hand?
Als du das Gefühl hast, weit genug entfernt zu sein, bleibst du stehen. Hier draußen alles ein Summen, Zwitschern. Du fragst dich, ob die Wildvögel zu hören sein werden am Band. Es ist so hell, dass du Barbara kaum ausmachen kannst, die den Camcorder am Stativ ausrichtet. Das Geräusch des Fahnenstoffs im Wind, als du ein paar Buchstaben probst. Deine Arme erinnern sich an die Bewegungen, als wäre es noch nicht so lange her, seit du sie das letzte Mal ausgeführt hast. Ich stelle mir vor, du kneifst die Augen zusammen, blinzelst. Ob das schon Barbaras Zeichen ist für Beginn, Camcorder, Ton läuft?

Wir teilen uns auch eine Idee, Hannah. Ich habe begonnen, den Sommer hier mit dir zu verbringen. Am Strand bei kadmiumgelber Flagge lese ich deine Code Poems. Pastellfarbene Post-it’s zwischen den Seiten. Ich habe recherchiert: heute stehen in den Feldern um die Hudson Guild Farm Schießanlagen, Wurfscheiben. Das Geräusch von Sandkörnern an Papier, wenn ich umblättere. "RJ Romeo and Juliet. EDQ Any Chance of War? RPJ Want Men. CHW Pirates". Auch irgendwie ein Jagdparcours dieses Sprachmaterial. Abhörsicher.
"Must be a good book", that you are reading. Der Mann neben mir ist mir bisher nicht aufgefallen. Außer seinem Badetuch hat er nichts dabei. Es fühlt sich seltsam an, mit jemandem über dich zu sprechen.
Mir hat Face-to-Face niemand deinen Namen genannt. Ich weiß nicht mehr, wie ich dich schließlich doch gefunden habe. Wie lange die Datei deiner gescannten "Code Poems" schon auf meinem Laptop gespeichert war, in einem Unterordner mit dem Namen "Referenzen_Flaggen". In der Vorbereitung für meinen Aufenthalt in der Hafenstadt, bin ich noch einmal alles durchgegangen. Im Vorschaumodus das Dunkelrot des Buchcovers, die schwarze Drehscheibe darauf, im innersten Kreis die Frage: "When does it or you begin?"

"Fehler im Netzwerk. Ein kleines Problem im Netzwerk hat die Wiedergabe unterbrochen. Bitte lade den Player nochmal und versuche es erneut."
Dich interessieren Kommunikationsmethoden, die Face-to-Face oder auf jede Distanz von allen Sendenden und Empfangenden verstanden werden können - ungeachtet von Sprache, Land, Planet oder Herkunft. Am "International Code of Signals" gefallen dir auch die Möglichkeiten des Simultan-Übersetzens: visuell, akustisch, in Bewegungen.
Ich wäre gerne dabeigewesen bei einer Performance deiner "Code Poems". Hätte sie gerne selbst gesehen, die Megaphone, die Riesentaschenlampen der Küstenwärter im New Yorker Central Park. Lange habe ich keine Aufnahme gefunden, gar nicht gewusst, dass du auch selbst performt hast.
Ich beschwere die losen Notizzettel mit dem Tagebuch, klicke auf "Neu laden". Das Video hat wenige Klicks. Wie viele davon wohl mittlerweile von mir stammen? Weiter unten: "Sei die erste Person, die kommentiert." Ich schalte den Ventilator ein.

Hallo Hannah,
Heben und Senken der nach beiden Seiten ausgestreckten Arme für "Achtung, bereit, Ruhe, Raum".

Ich habe damit angefangen, deine Armlinien Buchstabe für Buchstabe nachzuzeichnen,
meine Zettel an die Ateliertrennwand zu kleben, Fäden zwischen ihnen zu spannen, in feuerrot, kobaltblau, kadmiumgelb und cremeweiß. Ich habe mir aus dem Nachbaratelier eine Nähmaschine ausgeliehen, mir in der Markthalle Stoffbahnen und Holzgriffe gekauft, damit angefangen, die Armpositionen vor dem Spiegel zu üben - zwei Sekunden, die Ellenbogengelenke nicht überstrecken.
Im Schifffahrtsmuseum der Hafenstadt habe ich zwischen Chronometer und Kompass in einem Beschreibungstext gelesen: "die eigene Position zu kennen, ein langsamer, oft verwirrender Prozess". Mich beeindruckt die Eigenständigkeit deiner Texte, obwohl du meist gefunde Worte verwendet hast. Wie selbstverständlich du Spartenverbindungen eingehst. Kam das bei dir auch langsam? Ich frage mich das nämlich gerade oft, wann es anfängt, wann ich anfange.

Deine Bewegungen im Video wie die Spielgesten eines Musikstücks, das du seit langem das erste Mal wieder anspielst. Ruhig. konzentriert. Wir in Überdeckung: Meine Augen ruhig, konzentriert, spiegeln sich im Bildschirmglas, auf der Höhe deiner leicht angewinkelten Ellenbogen. Meine auf die schwarze Tischplatte gestützt. Deine Bewegungen ein Fließen von einer Signalgeste zur nächsten. Mehr wie ein Dis Tanz. Wir paarweise im Fuchsgang.

Stell dir vor, ich habe angefangen, in der Hafenstadt überall Signale wahrzunehmen. In den unterschiedlich weit geöffneten Türen der Nachbarateliers, den auf den Platz vor der ehemaligen Fabrikshalle gespuckten Kirschkernen. In der aufgehängten Wäsche an den Balkonen, in Alarmtönen, im vielsprachigen Elternsprechfunk am Strand, in den Lichtpunkten auf den Wellen, im pfeifenden Einatmen aufblasbarer Tiere.

Du senkst die Arme. Flaggenübereinander. Dann Schwarz. Stille. Credits in weißer Schrift. Reprise. Nochmal zurück. Links senkrecht nach oben, rechts unten. Schräg nach oben links, waagrecht links. Links unten, schräg nach unten rechts. Du senkst die Arme. Schwarz. Eine mühsame Arbeit, hast du es genannt, die Stille zu sprechen. Ich glaube, ich habe dich schon richtig verstanden.

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28. Juli 2021: Ich habe viel über deinen letzten Satz im Video nachgedacht. Vor den Rechercheunterlagen an der Ateliertrennwand. Beim Spazieren, mit Kopfhörern an der Strandpromenade entlang. Abends am Rücken auf gefärbtem Beton. Noch warm von der Sonne. Stelle mir vor aus der Vogelperspektive: Wie ich so daliege zwischen den Säulenreihen, die Arme nach beiden Seiten ausgestreckt. Zunächst war ich enttäuscht, nach all den Stunden des Entzifferns, den Sommerwochen mit dir. Über mir das Blinken des Fernmeldeturms. Von unten dringen die Geräusche der Hafenstadt herauf, mischen sich mit dem leisen Plätschern der Brunnenanlage. Mit dem Klang von Stimmen, die diskutieren, wann wohl endlich die Lichter angehen werden in den Säulen. Dann habe ich nachgelesen: ein Pangram mit allen Buchstaben des englischen Alphabets. Ein Satz, um eine Verbindung zu testen. Vielleicht ist es das, was ich dir vor allem anderen gerne sagen würde, dass unsere funktioniert, dass du mich erreicht hast, hier, heute. Ein Beginn. Im Aufeinanderzu können wir fernhell sehen.

Hi Hannah,
Sendetaste drücken und niederhalten. "This is", hier ist, Delta Echo.
Sierra Alpha Romeo Alpha Hotel.

Redaktion: Ingrid Bertel

Service

Vimeo - Die Videoarbeit von Barbara Rosenthal mit Hannah Weiner

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