Von Christina Walker

Das Staunen der Fische

Der Morgen ist zu laut. Ich kann die Autos an der Ampel losfahren hören, den Bus, das Zischen seiner Türen. Auf. Zu. Die Haltestelle ist direkt vor dem Haus. Ich zähle mit. Sieben Sekunden zwischen dem ersten und dem zweiten Zischen, wahrscheinlich sind sieben Leute eingestiegen. Nochmals auf, zu. Kam jemand hinterher gerannt auf dem Weg in die Arbeit oder zur Schule. Der Busfahrer hat Erbarmen.

Der Morgen ist zu laut, sagte Mama. Es war ihr einziger Kommentar zu der neuen Wohnung. Sie hatte immer empfindliche Ohren, vor allem am Morgen nach dem Aufstehen. Sie hätte sich diese Wohnung nicht selbst ausgesucht.

Das ist kein Wunschkonzert hier, meinte der Mann von der Familienberatung. Es ist gerade die einzig verfügbare Wohnung. Wenn wir sie nicht nehmen, tun es andere. Ein paar Straßen weiter ist das B. Gleich gegenüber ist Frau Minhs Blumenkiosk. Sie sitzt auf ihrem Klappstuhl zwischen den Kübeln, trinkt grünen Tee und schaut herüber auf unser Haus. Wenn sie genug von dem grauen Klinker hat, schaut sie wieder auf ihre Blumen. Sie versucht, mir den Unterschied zwischen Anemonen, Ranunkeln, Gerbera oder Pfingstrosen zu erklären. Das merke ich mir nie, sagte ich zu Frau Minh. Ich merke mir nur die Farben. Ich kann Farben nämlich riechen.
Frau Minh schüttelte die kurzen, schwarzen Haare.

Ich setze die Kopfhörer auf. Der Morgen verstummt sofort. Es sind gute Kopfhörer. Mein Handy liegt drüben bei Mama und spielt ihren Radiosender. Ich habe das letzte Lied im Ohr, ich kannte es nicht. You should be dancing. Ganz leise. What you doin' on your bed on your back? Ah. You should be dancing. Die Kopfhörer schließen mich ein, eine große Muschel. Da ist nur noch ein leises Summen. Vom Meer im Kopf, von mir, von meinem Blut.

Ich, sage ich im Bad zu meinem Spiegelbild. Ich nehme an, dass ich "ich" sage. Vielleicht sage ich auch gar nichts. Nur ein offener, blöder Mund, der nach Luft schnappt. Mit dem offenen Mund sehe ich aus wie ein Fisch im Aquarium. Mit den verschmierten Schatten unter den Augen sehe ich aus wie ein Waschbär. Mit dem Kajal ziehe ich neue schwarze Striche über die Augenlider. Kriegsbemalung.
Was sollen wir mit einem Haustier, sagte Mama. Wir sind doch nie da. Das wäre ein armes Tier.

Ich hätte mehr zu Hause sein sollen, besser aufpassen müssen. Ich hätte den Goldfisch im Glas genommen. Oder Black Mollys, schwarz ist schön. Und Fische sind pflegeleicht. 2 Euro 39 für zwei Black Mollys. Nur paarweise zu verkaufen, stand auf der Glasscheibe in der Zoohandlung. Auch Mama und mich gibt es nur paarweise. Zwei Waschbären haben irgendwo auf einer Terrasse eine Torte gefressen. Die Überwachungskamera hat sie gefilmt. Wir haben keine Terrasse, keine Torte, keine Überwachung. Wir haben Frau Höflehner, sie wohnt nebenan. Wenn ihr langweilig ist, steht sie in ihrer Tür, horcht, ob was passiert im Haus. Meistens passiert nichts. Die Waschbären kann ich mir auf TikTok ansehen. Nadja hat mir das Video geschickt. Sie findet die Tiere süß. Die Waschbären rangeln miteinander und beschmieren sich die Gesichter mit weißer Creme. Sie kreischen sich an. Ich weiß nicht, was daran süß sein soll.
Da war wieder so ein Lärm bei euch, sagte Frau Höflehner.

Ist eh alles still. Nicht einmal das Wasser gluckert, das ich in die Tasse laufen lasse. Nicht einmal der Löffel schlägt an die Tasse, als ich darin umrühre. Man muss lange umrühren, Nescafépulver löst sich schlecht auf in kalter Flüssigkeit. Ich warte, dass es kalt in mir hinunter rinnt, durch den Hals bis in den Bauch. Ich spüre nichts. Ich nehme zwei Eiswürfel in den Mund und lasse den kalten Kaffee darüber laufen. Auch jetzt spüre ich nichts. Das Eis klackert nur aneinander und an die Zähne wie die Billardkugeln im B. Das Eis klackert sogar mit Kopfhörern. Ich habe innen Ohren. Von außen: nichts.

Mama fror oft von innen nach außen, trotz der Hitze in der Wäscherei und an der Mangel, durch die jeden Tag hunderte Krankenbettlaken laufen. Dafür hatte sie die Strickjacke. Sie riecht, wie Mama früher gerochen hat: nach Seife und Stärkungsmitteln, nach Frische, weiß und rein. Obwohl die Jacke grau ist, riecht sie weiß. Im Winter dampfte die Wäscherei, sie war mein zorniger Drache. Als Kind drückte ich mir jeden Morgen die Nase am Busfenster platt, um herauszufinden, wo der Drache den Kopf hatte, wo den Hintern. Bevor sie in seinem Bauch verschwand, schickte mir Mama eine Kusshand, die mich ein paar Busstationen weiter bis vor die Schule trug. Der zornige Drache wird Mama bewachen, dachte ich. Er wird sie beschützen, wenn ich nicht da bin, wenn ich zur Schule muss. Ich war immer die erste am Morgen, saß auf den Stufen vor dem großen Eingang, bis der Schulwart aus den hintersten Gängen, wo irgendwo seine Wohnung liegen musste, zur Tür kam und aufschloss. Verschlafen, in Hausschuhen, hielt er seine Hausjacke über der Brust zusammen und mir die Tür auf. Mit dieser Jacke fühle ich mich einfach unschlagbar, sagte Mama.

Ich ziehe die graue Strickjacke, die immer noch weiß riecht, über der Brust zusammen, sie ist mir viel zu groß. Ich versuche, mich unschlagbar zu fühlen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich mich je unschlagbar gefühlt habe. Vielleicht damals als Siebenjährige, als im Turnunterricht zum ersten Mal der Schwebebalken aufgestellt wurde. Ich fiel als einzige nicht herunter, wackelte nicht einmal, weil ich mit geschlossenen Augen über den Holzbalken ging. Ich konnte nicht glauben, dass die anderen diesen Trick nicht kannten, dass sie keinen Vater hatten, der mit geschlossenen Augen Kunststücke machen konnte. Mit kleinen Lederbällen jonglieren zum Beispiel, mit Tüchern und sogar mit Flaschen, die alle gleich leer oder gleich voll sein mussten. Wegen des Gewichts, sonst drehen sie sich und fliegen unterschiedlich, erklärte mir mein Vater. Er nahm nacheinander kleine Schlucke aus den Flaschen und stellte sie dann dicht nebeneinander, um die Höhe des Inhalts zu messen. Mama sagte nicht Jonglieren, sondern Saufen dazu. Einmal flog eine Flasche in ihre Richtung und zersprang an ihrem Ohr, das genäht werden musste. Nachher war sie noch empfindlicher auf dieser Seite und ich begann, mir und den anderen in der Klasse Geschichten über meinen Vater zu erzählen. Dass er als Artist mit einem Zirkus durch ganz Europa zog. Bis nach Berlin, London, Paris, Prag. Europa war unvorstellbar groß, da sah man sich lange nicht, wenn einer unterwegs war. Den anderen blieb der Mund offenstehen. Sie sahen aus wie Fische. Sie hatten keinen Vater, der Kunststücke konnte, nur einen normalen. Ich beneidete sie.

Als ich die Jacke über Mama lege, damit sie sich einfach unschlagbar fühlt, fällt mir Mario-Marco-Mailo ein. Halb hinterm Vorhang schaue ich aus dem Fenster. Es wird gerade erst hell draußen. Er steht an der Fußgängerampel neben Frau Minhs Blumenkiosk und wartet auf mich. Sie schüttet einen Wasserkübel an seinen Beinen vorbei in den Rinnstein, wo das Wasser langsam Richtung Gully fließt. Sie geht zurück in ihren Kiosk und holt die nächsten zwei Kübel. Mario-Mailo-Marco tippt etwas in sein Handy. Vermutlich probiert er gerade, mich anzurufen. Mein Handy liegt bei Mama. Ich nehme die Kopfhörer nicht ab. Die Kopfhörer sind gut. Sennheiser. Ich muss nichts hören von außen. Von innen ist es laut genug.

Frau Minhs Besen fegt Wasser und ein paar matschige Blütenblätter vom Gehsteig. Sie sieht aus, als würde sie den Mann mit dem Handy am liebsten mit in den Rinnstein kehren. Das Jugendamt hat Marco-Mario-Mailo vor ein paar Wochen geschickt, um mich zur Schule zu begleiten. Er besteht darauf, dass wir zu Fuß gehen. Über zwei Kilometer, egal bei welchem Wetter. Er redet die ganze Zeit, aber seinen Namen habe ich nicht richtig verstanden. Er erzählt mir von seinem Sporttraining, American Football. Das verstehe ich. Er will mich überreden, dass ich einmal mit zum Training komme. Das tut so gut, sagte er, sich mal richtig auszupowern, alles raus zu lassen. Es klang, als würde er gleich losrennen müssen vor lauter Energie. Ich finde mein Leben anstrengend genug. Ich brauche meine Energie für andere Dinge. Ich muss keine Aggressionen abbauen.

Die Direktorin sagte, sie kann mir wegen meiner Fehlzeiten bald kein Zeugnis mehr für das Schuljahr ausstellen. Wenn ich so weitermache, muss ich das komplette Jahr wiederholen. Mama war wütend. Sie schrie mich sogar an. Sie hat mich schon lange nicht mehr angeschrien. Nur ihr zuliebe lasse ich mich morgens von Marco-Mario-Mailo zur Schule führen wie ein kleines Kind. Die aus meiner Klasse halten ihn für meinen Freund. Ist der nicht schon ein bisschen alt?, fragte Nadja und ließ den Mund offenstehen. Ich rollte die Augen und beschwerte mich, wie furchtbar anhänglich der Typ ist. Ich nenne ihn Mailo. So heißt sonst niemand, den ich kenne.
Morgens bin ich zurzeit immer pünktlich in der Schule. Ich verschwinde aber vor Schulschluss. Zahnarzt, Migräne, Regelschmerzen, ich wechsle ab. Ich schleiche mich spätestens in der letzten Pause davon, hinten hinaus bei den Umkleiden, wo es immer wimmelt vor Leuten. In der Masse kann man gut verschwinden. Deshalb leben Mama und ich jetzt mitten in der Stadt.

Das B. öffnet um elf. Ich bin mittlerweile richtig gut im Poolbillard. Ich spiele meistens gegen mich selbst. Wenn ich nicht genug Geld fürs B. habe, gehe ich spazieren oder ins Einkaufszentrum. In der Parfümerie suche ich nach einem Duft, der nach Wäscherei riecht oder zumindest daran erinnert. So weiß und rein. Nach dem großen, sauberen Drachen, den Mama so mochte, selbst wenn er sie nicht beschützen konnte.

Mein Vater ignorierte das Kontaktverbot. Er passte sie mitten im Dampf in der Mangelhalle ab. Niemand hatte gesehen, wann er hereingekommen war. Niemand schmiss in wieder raus. Sie bat ihn zu gehen, es war ihr bestimmt peinlich, die Halle voller Kolleginnen, der Schichtleiter in seiner verglasten Kabine. Alle schauten her. Die Maschinen halten nicht einfach an, sagte sie nachher, die Leintücher flogen auf den Boden. Ich konnte mir vorstellen, dass ihr das am peinlichsten von allem war. Dass sie ihre Arbeit nicht ordentlich machte. Dass die saubere Wäsche im Dreck lag. Neben meinem Vater.
Ich habe geweint, sagte mein Vater nachher, und sie auf Knien um Verzeihung gebeten.
Mama hat es nie ausgehalten, wenn jemand wegen ihr weinte.

Gegenüber tippt Mario-Marco-Mailo immer noch in sein Handy. Ein alter Mann mit grauem Hund kommt vorbei. Der Hund schleckt abgestandenes Blumenwasser aus dem Rinnstein, trottet zu einem Kübel voller bunter Sträuße und hebt sein Bein. Der alte Mann schaut zu, wie sein Hund an den Kübel pisst. Frau Minh sitzt auf ihrem Klappstuhl im Kioskeingang und trinkt grünen Tee. Sie trinkt nie etwas anderes als grünen Tee. Als ich zurück zur Fußgängerampel schaue, ist Mailo-Mario-Marco verschwunden. Es klingelt an der Tür. Ich höre es sogar durch die Kopfhörer. Laut und drängelnd. Mailo lässt den Finger auf dem Klingelknopf. Ich falle über den Hocker im dunklen Flur, ich falle aufs Gesicht. Ich stehe auf und reiße die beiden dünnen Kabel aus dem kleinen Plastikkasten oben neben der Tür. Es hört auf zu klingeln. Ich nehme die Kopfhörer ab.

Da war wieder so ein Lärm bei euch, sagte Frau Höflehner gestern, als ich von Nadja nach Hause kam. Sie sagte "wieder", sie sagte es aber zum ersten Mal zu mir. Ich merke mir sehr genau, was man zu mir sagt. Ich lehne mit dem Rücken an der Wohnungstür und warte. Auf Frau Höflehner, die sich über den Lärm in der Früh beschwert. Auf meinen Schulbegleiter, der mich aus dem Bett holen will. Ich warte darauf, dass ich aufwache und einfach nur in der Schule sitze. Biologie in der ersten Stunde. In der Wand ist ein Aquarium eingelassen. Es blubbert so beruhigend. Der Antennenwels hat einen Guppy gefressen. Ein zweiter trieb mit dem Bauch nach oben im Wasser. Der Biologielehrer fing zuerst den Wels. Dann fischte er auch den toten Guppy raus. Mit einem Schwanzschlag drehte sich der Guppy in dem kleinen Netz und hüpfte heraus, zurück ins Wasser. Er hatte sich nur totgestellt. Alle lachten. Der Guppy öffnete den Mund, staunte, dass er davongekommen war. Der Wels trieb in einer durchsichtigen Kunststoffbox auf dem Lehrerpult. Der Lehrer fragte, wer ein Aquarium mit größeren Fischen zuhause hat. Ein richtiges Aquarium, kein Goldfischglas.

Ich sitze immer noch an der Wohnungstür, keiner kommt. Ich schmiere etwas Blut aus der Nase in den schwarzen Ärmel. Schwarz ist schön, man sieht kein Blut darauf. Man spürt es später nur, wenn es trocknet und hart wird. Ich öffne den Mund so weit als möglich, bewege den Unterkiefer, um herauszufinden, ob etwas gebrochen ist. Die Nase, das Jochbein. Ich spüre nichts.
Ich habe das zarte Gesicht meiner Mutter geerbt, sagen alle. Mit zehn Jahren habe ich angefangen zu beten, dass ich nichts von meinem Vater geerbt habe. Außer vielleicht seine Fähigkeit, mit geschlossenen Augen Kunststücke zu machen. Jonglieren, über einen Baumstamm balancieren, die Farben meiner Kleidung erraten.
Ich kann die Farben riechen, wenn ich die Augen schließe, sagte mein Vater.
Mir wird schlecht. Im Bad kotze ich braun ins Waschbecken. Schokoladeneis, Nescafé. Die Nase hat aufgehört zu bluten. Ich bin so müde, dass ich mich wieder zu Mama ins Bett lege.

Ich höre den nächsten Bus kommen und bremsen, die automatischen Türen zischen. Auf. Zu. Zwei Sekunden, ich zähle mit. Jetzt steigt kaum mehr wer ein. Die Erwachsenen sind bei der Arbeit, die Kinder in der Schule. Gleich acht, sagt der Radiosprecher. So Beat It! Just Beat It! Mario-Mailo-Marco hat angerufen und eine WhatsApp geschickt: Was ist los? Melde dich!
Mein persönlicher Schulbegleiter hat mit "Mario" unterschrieben. Er heißt gar nicht Mailo. Mario heißen sie alle. Niemand hat mich gefragt, warum ich die Schule schwänze, warum ich gar nicht erscheine oder früher verschwinde. Nicht einmal Nadja. They're out to get you, better leave while you can. Ich könnte mich totstellen wie der Guppy. You have to show them that you're really not scared.
Ich habe meine Antennen, sagte Mama. Sie klang nicht mehr wütend, sie klang traurig. Sie hatte nie gute Antennen dafür, was um sie herum und mit ihr passierte.

Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich meinen Vater vor der Schule gesehen habe. Vor vier Monaten. Sie hätte Angst gehabt, vielleicht nochmals umziehen wollen. Nach Schulschluss am frühen Nachmittag stand er unter dem Baum auf der anderen Straßenseite, halb versteckt. Er rauchte mitten unter den Schülern. Auch Nadja stand da, sie will einem Jungen aus der Oberstufe gefallen. Deshalb raucht sie. Meinen Vater erkannte ich am leichten Zittern der Zigarettenhand, das immer schon da war und wie durch Zauber aufhörte, wenn er mir ein Kunststück vorführte.

Am nächsten Tag begann ich, die Schule zu schwänzen, zu spät zu kommen, zu früh zu gehen. Mein Vater könnte mich erkannt haben in der Menge, er könnte versuchen, mir zu folgen. Manchmal denke ich, ich laufe vor Gespenstern davon. Wo meldet man Gespenster? Der Polizist auf der Wache sagte, er ist nicht zuständig, wenn nichts passiert ist. Deshalb laufe ich kreuz und quer durch die Stadt, spiele Billard gegen mich selbst, hänge im Einkaufszentrum herum. Ich gehe nie auf direktem Weg nach Hause.

Als ich in der Vierten war, zogen Mama und ich ins Frauenhaus. In der Klasse sagte ich, in unserer Wohnung hat es gebrannt, da können wir nie wieder hin und mein Vater ist so schwer verletzt, dass er in eine Klinik muss, wo ihn niemand besuchen darf. Und wenn es schlecht läuft, kann er nie wieder Kunststücke machen. Ich streckte meine beiden Hände vor, die Finger total verkrümmt. Die anderen rissen die Münder auf. Nach dem letzten Umzug ließ ich ihn sterben. Es war besser so. Ich schloss die Augen und alles roch, wie es riechen musste: die schwarze Erde auf dem Friedhof, die weißen Blumen in den Gestecken, Mamas graue Strickjacke, in der sie sich einfach unschlagbar fühlt.
Mein Vater ist tot, sagte ich zu Nadja in der neuen Schule. Sie nickte bloß.

Ich habe bis jetzt kein Parfum oder Deo gefunden, das nach Wäscherei riecht oder auch nur daran erinnert. Rein, weiß, frisch. Wahrscheinlich gibt es so etwas gar nicht. Einmal versuchte ich, einer Verkäuferin den Duft zu beschreiben. Sie dachte, ich will sie verarschen.

Ihre unschlagbare Strickjacke trägt Mama nur noch zuhause. Es ist das letzte Kleidungsstück, das nach Wäscherei riecht, nach früher. Der Geruch lässt nach. Er wird sich nicht ewig in den kleinen grauen Maschen der Jacke halten. An den Ellbogen ist das Gewebe schon so dünn, dass man durchsehen kann. Mama duscht, bevor sie die Jacke anzieht. Sie wäscht Kibbeh- und Falafeldunst aus ihren Haaren. Der süßliche Brotgeruch geht nicht ganz ab. Er hat sich festgesetzt in ihrer Haut wie vorher die Waschlauge und der Bügeldampf, von dem ihr Gesicht immer rosig war. Mama kümmert sich um die kleinen Fladenbrote, Said um alles andere. Sie ist blass wie die faustgroßen Brote vor dem Backen. Saids Imbiss liegt mitten in der Stadt, in der Fußgängerzone. Das B. ist genau gegenüber, im ersten Stock. Ich kann nur Mamas Stirn und Haare sehen, über die sie ein Netz gezogen hat, der größte Teil der Küchenscheibe ist mit einer Folie zugeklebt. Falafelsandwiches und Kibbehteller. Wenn Mama über sie hinweg auf die Straße schauen will, muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Bestimmt lächelt sie den Leuten zu, die vorüberlaufen. Von oben sehe ich nicht, ob jemand zurücklächelt. Mama beschwert sich nie.

Im Sommer fahren wir ans Meer, sagte sie, und gehen tanzen. Saids Schwester vermietet Gästezimmer direkt am Hafen. Die winzige Imbissküche ist eigentlich eine Kombüse auf einem Schiff. Zum Tanzen ist kein Platz dort. Some boys take a beautiful girl. And hide her away from the rest of the world. Auch ich sah sie tanzen miteinander, die Männerhand lag unten auf ihrem Rücken, ungefähr dort, wo meine Knie gerade liegen. Dort, wo sie so gern berührt wird. Ja, stärk mir den Rücken, sagte Mama und lehnte sich gegen mich. Als Kind grub ich den Kopf in ihren Rücken, in die Kuhle über dem Po, und hielt sie von hinten fest umschlungen. Die Hände kamen vorne kaum zusammen. Und wir tanzten, bis ich umfiel, weil mir so schwindlig war. Girls just wanna have fun.

Sie tanzte mit einem Mann, der sie aufgefordert hatte. Wir waren am Meer, in Rimini, es waren Ferien. Die letzten zu dritt. Und mein Vater fegte sein Weinglas vom Tisch. Ich lachte, weil ich ihn trösten wollte. Weil nicht jedes Kunststück gelingen kann. Weil er tatsächlich vergessen hatte, die Augen zu schließen, obwohl er mir immer sagte, wie wichtig das ist.

Schließ die Augen, benutz alle deine Sinne, sagte mein Vater. Spürst du deine Umgebung? Spürst du dich jetzt? Er konnte Gläser vom Tisch schubsen und sie wieder auffangen, kurz vor dem Boden. Alle applaudierten. Er starrte zu Mama und dem unbekannten Mann auf der Tanzfläche. Das Glas zerbrach, ich lachte. Ich bekam eine Ohrfeige und hielt sie für das gleiche Versehen wie das Glas, das zerbrochen auf den Steinplatten lag, in einer Lacke aus Wein. Erst später weiß ich: Die Ehe ist das Kunststück, das mein Vater nicht beherrscht. Die Eifersucht, die Wut machen ihn blind, sie beherrschen ihn, nicht umgekehrt. Und der Alkohol.

Mit uns kommst du gut in den Tag, sagt der Radiosprecher in mein Ohr. The birds they sing at the break of day. Start again I heard them say. In unserer Wohnung hört man keine Vögel von draußen, nur den Papagei von Frau Höflehner nebenan. Der singt nicht, er keift.
Der beißt dir glatt den Finger durch, sagte der Verkäufer in der Zoohandlung und zeigte auf den großen Ara. Ich hatte beide Hände in den Jackentaschen, ich zählte mit einer die Münzen, die andere Hand hielt den Fünferschein. Es reichte für alle Fische, die ich wollte, aber nicht für das Aquarium, die Pumpe, die Zeitschaltuhr, das Licht. Der Antennenwels sieht aus wie die Bluse, die Mama anhat. Braun mit weißen Tupfen.

Da war wieder so ein Lärm bei euch, sagte Frau Höflehner.
Fische können nicht schreien. Ich mag es nicht, wenn geschrien wird.
Am Sportplatz versteckte ich mich unter einem großen Busch. Sofort musste ich an meinen Vater unter dem Raucherbaum bei der Schule denken, zwischen all den Jugendlichen. Vor mir rannten Jugendliche mit breiten eckigen Schultern über das Spielfeld, sie brüllten sich Kommandos zu. Jungen, Mädchen, in der Verkleidung, mit ihren Helmen konnte ich sie kaum auseinanderhalten. Aber Mädchen rennen anders. Der Ball ist ein Ei in der Luft. Ein Mädchen fängt ihn, sie wird zu Boden gestoßen. Mario pfeift ab. The holy dove. She will be caught again.

Ich werde euch finden, sagte mein Vater, bevor wir wegzogen.
Er tauchte nicht wieder auf vor der Schule. Zumindest sah ich ihn nicht. Ich schlich mich immer hinten aus dem Gebäude, über die Umkleiden, wo es wimmelt vor Leuten, über die Fußballplätze, die am Park enden. Dann entdeckte ich ihn in der Fußgängerzone. Die Zigarettenhand zitterte leicht, als er sie zum Mund führte. Der Mann schaute hoch zu den großen Fenstern des Billardlokals. Er schaute hoch zu mir. Es war nicht mein Vater. Bestimmt. Mamas Kopf hinter der Fensterfolie war nicht zu sehen.
Bald fahren wir ans Meer und tanzen. Bought and sold and bought again. The dove is never free.
Gestern tanzte ich mit Nadja, wir aßen zu zweit eine Packung Schokoladeneis, wir schickten blöde Nachrichten an andere aus der Klasse. Unser Blutzuckerspiegel war viel zu hoch. Uns war schwindlig. Nadjas Mutter sagte, wir sollen lieber unsere Arbeit für die Schule ordentlich vorbereiten. Girls just wanna have fun, sang Nadja. Ich kam zu spät nach Hause.

Biologie in der ersten Stunde. Unser Referat. Cortisol, Glukagon, Insulin, auch Alkohol hat Einfluss auf den Blutzuckerspiegel. Das Handy summt in mein Ohr. Nadja hat eine WhatsApp geschickt: Wo bist du?? Wir sind als nächstes dran, ich hasse dich!!
Da war wieder so ein Lärm bei euch.
Mama hat mir nicht erzählt, dass er da war, in der Wohnung. Einmal, zweimal? Hat sie geschrien oder er? Mein Vater kann laut schreien und unheimlich still sein. Früher verfolgten wir manchmal Spaziergänger auf dem Damm im Wald, sie oben, wir unsichtbar unten im Gebüsch. Er hielt mir den Finger an die Lippen. Eine Frau hetzte ihren Hund auf uns, sie hielt uns für Verbrecher.
Mein Vater ist ein Hund, er hat die Witterung aufgenommen vor der Schule. Oder irgendwo sonst in der Stadt, in der ihm niemand Auskunft gibt über uns. In der wir in keinem Telefonverzeichnis stehen. Ein treuer Hund findet immer wieder nach Hause. Es hat fast zwei Jahre gedauert.
There is a crack, a crack in everything, that's how the light gets in.
Ich stelle das Radio aus und schreibe Nadja: Mama ist tot.
Nadja schreibt: Haha.
Sie ist tot, schreibe ich an Mario.
Er schreibt: Wo bist du?
Ich bin im Bett, ich krieche zu Mama unter die unschlagbare Jacke und grabe das Gesicht in den Geruch nach Waschlauge und Wasserdampf, nach süßlichem Brotteig und kühler Haut. Wenn ich die Augen schließe, wird alles rot. Ich kann die Farbe riechen. Blut und Eisen. Ich reiße die Augen wieder auf. Ich zähle die Autos, die vorbeifahren, komme jedes Mal nur bis zwei. Uns gibt es nur paarweise. Wir tanzen. Ich halte sie von hinten fest umschlungen. Wir tanzen, bis wir beide umfallen. Bis jemand die Jacke wegzieht, meinen Arm nimmt, mich auf die Füße stellt. Ich spüre nichts.

Das Blut auf ihrer Bluse sieht aus wie eine dunkelrote Pfingstrose, sage ich zu Frau Minh und zeige auf meinen Bauch, dort, wo die Rippen aufhören. Sonst hat sie nichts. Frau Minh schüttelt ihre kurzen, schwarzen Haare, sie drückt mir eine warme Tasse in die Hand. Ich sitze im Kioskeingang zwischen den Blumenkübeln. Auf dem Krankenwagen rotiert tonlos das Blaulicht, auf den Polizeiautos auch. Frau Höflehner steht halb hinterm Vorhang und verschwindet dann in der Wohnung. Ich will auch verschwinden. Frau Minh zieht ihre Rotznase hoch. Man hört es gut, weil der Morgen plötzlich so leise ist. Ein Polizeiauto steht quer in der Straße und versperrt sie. Die Autos, die Busse, müssen an der Kreuzung abbiegen. Der alte Mann mit dem grauen Hund kommt zurück. Der Mann bleibt stehen, beugt sich über die Blumen vor dem Kiosk, der Hund schnüffelt an den Kübeln, an seiner eigenen Pisse. Der alte Mann zieht einen bunten Strauß aus dem Wasser.
Da muss was passiert sein, sagt er.

Gegenüber füllt sich unsere Wohnung mit Polizisten, einige tragen weißglänzende Overalls mit Kapuze. Ich sehe sie im beleuchteten Fenster hin und her schwimmen wie in einem Aquarium. Sie bergen den Fisch mit der schönen gepunkteten Haut. Braun mit weißen Tupfen. Er treibt auf dem Rücken, den Bauch nach oben. Mama stellt sich tot. Wenn die Polizisten sie anfassen, wird sie mit den Beinen schlagen, sich umdrehen und einfach aus dem Bett springen. Und alle werden lachen. That's how the light gets in. Mario tritt mit einer Polizistin aus der Haustür. Sie streift sich die glänzende Haut vom Kopf. Die Plastikhaut wippt auf ihren Schultern, als sie mit leerem Gesicht auf mich zukommt. So blendend rein und weiß. Ich schließe die Augen.
Spürst du dich jetzt?, sagt mein Vater.

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